03 11 2023
Marlene sagt: Manchmal muss ich weinen, weil ich plötzlich daran erinnert werde, dass mein Leben wie ein schöner Traum ist, und warum muss ich daran eigentlich erst erinnert werden? Warum begleitet mich dieser Gedanke nicht durch jede Sekunde meines Daseins?
Marlene liebt ihr Leben, und sie liebt natürlich auch ihren kleinen Bruder. Aber die Liebe, die sie für ihr Leben empfindet, ist doch von einer anderen Art als die Liebe, die sie für ihren kleinen Bruder empfinden muss. Indem wir lieben, erschaffen wir das Objekt unserer Liebe noch ein zweites Mal; wir erschaffen uns den Gegenstand unserer Liebe als einen, den zu lieben wir tatsächlich im Stande sind. Marlene kann ihr eigenes Leben deshalb aufrichtig lieben, weil sie es sich selbst geschaffen hat. Sie hat es sich geschaffen, indem sie immer hart gearbeitet hat auf ein Ziel hin, das sie sich gesetzt hat.
Aber Marlene sagt auch: Ich hätte es nie geschafft, wenn ich nicht beschlossen hätte, dass das, was ich will, gut ist. Die Dinge sind nicht von Natur aus gut oder schlecht. Man muss sich entscheiden, das Gute in ihnen zu sehen oder eben nicht.
Tobias sagt: Wer von mir trinkt, der wird durstig sein, und wer von mir isst, der wird hungrig sein. Was ich damit sagen will ist, dass ich ein Loch bin ohne Boden, für alle, die mich lieben wollen, aber eben auch für mich selbst.
Marlene kann es nicht mehr hören, und wenn sie in Frankfurt ist, dann besucht sie ihren Bruder schon lange nicht mehr gerne in seiner Wohnung an der Bockenheimer Warte. Tobias wohnt immer noch in dieser Wohnung, jetzt, wo Marlene daran denkt, ist es völlig absurd, dass Tobias immer noch in dieser furchtbaren Wohnung wohnt, wo sich doch alles so verändert hat in den letzten Jahren, aber sie wohnt ja auch schon seit fünf Jahren in der Wohnung in der Nähe des Place de la République, aber das ist doch etwas anderes, denkt Marlene.
Marlene hat Angst, wenn sie an die nächste Präsidentschaftswahl denkt, und das ist wirklich eine ganz echte Empfindung. Bald wird Marlene auch die französische Staatsbürgerschaft haben (wenn sie und Matthieu heiraten), und dann wird sie in Frankreich Macron wählen und in Deutschland die Grünen.
Marlene, die sonst niemals hasst, hasst Tobias, weil sie ihn lieben muss, und weil er es ihr so schwer macht, sie zu lieben. Tobias hasst Marlene, weil sie ihn an seine Schuld erinnert, und an seine Schuld muss Tobias nicht erinnert werden, im Gegensatz zu Marlene, die daran erinnert werden muss, dass ihr Leben schöner ist als der schönste Traum, den sie träumen könnte, und dass dagegen jeder echte Traum immer nur ein Albtraum sein kann.
Wenn Tobias nachts sein frisch vollgewichstes Soft-und-Sicher-Taschentuch wegschmeissen will, dann muss er nochmal aus seiner Wohnung auf die Toilette am Flur, die er sich mit den anderen Einzimmerwohnungen auf dem Stockwerk teilt, so wie die Ausländerfamilie, die sich eine der Wohnungen auf dem Flur teilt, oder er legt das nasse Taschentuch bis zum nächsten Klogang auf die Heizung. Im Kontext seines Hauses ist Tobias egoistisch, weil er allein in seiner Einzimmerwohnung wohnt, während sich nebenan eine Familie den selben Raum teilt.
In Marlenes Kopf ist Tobias egoistisch, weil er in seinem Kopf eine perfekte Version unserer Gesellschaft entwirft und dann beleidigt ist, weil die echte Welt nicht so ist. Tobias hätte jede Möglichkeit gehabt (und, mit gewissen Abstrichen, hätte er immer noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten), aktiv an der Verbesserung dieser Welt mitzuarbeiten. Aber anscheinend, denkt Marlene, hat Tobias daran überhaupt kein wirkliches Interesse, und er hat es sich stattdessen eingerichtet in einer hoffnungslosen Welt und in einer Hoffnungslosigkeit, die ihn bequemerweise von seiner Verantwortung entbindet.
Marlene sagt nichts davon zu Tobias, wenn sie ihn besucht. Sie weiß, dass sie Tobias’ Meinungen nicht als Meinungen begreifen darf, sondern dass sie sie mit Verständnis betrachten muss, weil sie nur Äußerungen sind einer Krankheit, die keinen Namen hat, weil Tobias sich weigert, sie als Krankheit zu begreifen, aber sie hasst Tobias insgeheim dafür, dass er nicht seinen Teil tut.
Marlene hasst Tobias, wie man nur einen Kranken hassen kann und wie man nur hasst, wenn man gezwungen ist, zu lieben und Mitleid zu empfinden und moralisch in die Ecke gedrängt wird und keine Wahl hat. Das Lieben und die Barmherzigkeit sind nur so lange edle und erhebende Gefühle, wie man sie aus freien Stücken und aus eigener Entscheidung ausübt. Wer aber nur liebt, weil geliebt werden muss, der tut ja nur, was er eh soll und weil er ein Arschloch ist, wenn er es nicht tut.
Das Treffen zwischen Bruder und Schwester ist kurz und Marlene fragt gar nicht erst nach Zucker oder Milch für den ekelhaften Kaffee, weil ein Blick genügt in die dunkle Küche mit den leeren Schränken und der Schachtel Jodsalz auf der Arbeitsfläche. Es sind so viele Dinge, nach denen Marlene lieber nicht fragt, dass sie am Ende gar nicht mehr weiß, wonach sie Tobias überhaupt fragen soll.
Die ganze Zugfahrt hindurch und noch bis in ihre Wohnung hinauf antwortet Marlene in ihrem Kopf auf all die Sachen, die Tobias gesagt hat, über die Europäische Union und über Russland und über Hegel und Fichte und über die Maßnahmen, und in ihrem Kopf antwortet sie vernichtend und triumphal und wünscht sich, dass sie mittags in Frankfurt so geantwortet hätte, anstatt dem, was sie stattdessen nicht gesagt hat und anstatt der mitleidigen Blicke und mitfühlenden Fragen und aufgezeigten Optionen von Therapie und Arbeitssuche.
Marlene isst ihr bestelltes Essen und schaut auf dem Handy erst Tagesschau und dann Daily Show, aber sie kann heute nicht lachen und vergessen beim Anblick von Trevor Noahs freundlichem Gesicht und nur zustimmen, was nicht befriedigend ist, weil Tobias in ihrem Kopf mit schaut und sich lustig macht über Trevor Noah, so, wie er sich lustig macht über Stephen Colbert, und bitter erinnert sie sich daran, wie sie früher zusammen gelacht haben über Noah, Colbert und John Oliver. Der Bericht über Niger in der Tagesschau hat sie unruhig gemacht, obwohl Matthieu ja gar nicht in Niger ist, sondern in Mali, der Bericht mit den wütenden Männern, die schreien, dass sie die Demokratie hassen und den Westen und ganz besonders Frankreich, obwohl man das natürlich verstehen muss und es außerdem bestimmt eh nur vom Militär bezahlte Demonstranten sind und das echte Volk bestimmt keineswegs die Demokratie hasst, aber trotzdem.
Marlene wünscht sich, dass Matthieu jetzt hier wäre bei ihr, und nicht in irgendeinem Hotel in Bamako, aber sie möchte ihm das auch nicht schreiben jetzt, weil sie ja weiß, dass Matthieu sie auch vermisst und sich nur schuldig fühlen wird, wenn sie ihm nun schreibt, dass sie ihn gerne hier hätte, und weil sie ja eigentlich stolz darauf ist, dass Matthieu dort so wichtige Arbeit leistet und sie ihn liebt dafür, sich in ihn verliebt hat, weil er dort so wichtige und schwierige Arbeit leistet, und es ist ihr egal, dass er dafür viel weniger verdient als sie bei der Europäischen Union verdient.
Marlene träumt, dass sie in einem Büroraum ist mit Ventilator an der Decke, und schwarze Männer in Uniformen haben Matthieu an einen Bürostuhl gefesselt und Matthieu hat große Angst, das kann sie sehen, aber sie ist machtlos, sie ist nur ein Paar Augen in diesem Raum und hat keinen Körper. Der Mann am Schreibtisch hat die Beine mit den schwarzen Stiefeln auf den Tisch gelegt und trinkt ein Budweiser und lacht, lacht, während seine Untergebenen Matthieu ein Ohr abschneiden und dann das andere, und alle lachen, und Traum-Marlene schießen die Tränen in die Augen vor Zorn und Machtlosigkeit und sie schreit, dass die Männer doch statt Matthieu Tobias foltern sollen, aber niemand hört sie, und der Offizier trinkt weiter sein eisgekühltes Budweiser, während seine Männer Matthieu auslachen, der vor Schmerz weint und der niemals jemandem etwas getan hat und der Schulen aufbaut in Mali und den doch alle lieben.
Marlene wacht auf und schämt sich sofort dafür, wie sie geträumt hat von den schwarzen Männern, und dann schämt sie sich auch ein bisschen dafür, wie sie im Traum über Tobias gedacht hat, über ihren Hass auf Tobias, der sich im Traum Bahn gebrochen hat. Ihr Hass befremdet Marlene, weil er nicht zu ihr gehört, weil er zu Tobias gehört und den Menschen, die leider wie Tobias sind, und denen man helfen muss.
Marlene geht hinaus auf den Balkon und schaut über Paris bis hinüber zu Montmartre, wo sie als kleines Kind bei ihrem ersten Besuch in Paris Angst hatte vor den Schwarzen, kindische und irrationale Angst, für die sie sich jetzt in diesem Moment schämt, und um sich abzulenken öffnet sie die französische Zeitung auf dem Handy und liest, dass in Marseille ein ganzes Haus zusammengestürzt ist und alle Bewohner unter sich begraben hat, und wie wäre es wohl wenn das das Haus von Tobias gewesen wäre, und ob und wie genau sie dann weinen würde.
Tobias weint, weil es wieder nicht funktioniert, sein Gesicht zieht sich zusammen und sein Mund steht offen, egal wie lächerlich er es findet in diesem Moment und wie gewaltsam er versucht, es zu beenden, weil wieder dieser Moment eingetreten ist, in dem es nicht mehr funktioniert, die Flucht nicht mehr funktioniert und es ihn einholt, dass sein Versteck kein sicheres Versteck ist, weil es nur ein räumliches Versteck ist, aber er sich nicht verstecken kann vor der Zeit, die mitleidslos verstreicht, und vor denen, die vielleicht jetzt noch gezwungen sind, ihn zu lieben, die ihn aber zwangsläufig irgendwann hassen werden.