Neue literarische Texte

Künftige Beiträge im

oder alle Seasons im

Autofriktion

03 01 2025

Ich bin bereit, ein Geheimnis zu verraten. Jetzt ist wieder Morgen. Was ich schreibe, hat keinen Anfang. Es ist reine Fortführung. Das ist nicht mein Geheimnis.
Es gibt dieses Saying, dass wir uns Fiktionen ausdenken, um andere Leben zu leben, um alles Andere zu erfahren. Das, was wir nicht sind. Das ist es nicht, es ist das Gegenteil. Fiktionen erlauben uns, so auftauchen zu lassen, wie wir wirklich sind.

Jeden Tag trage ich eine Maske. Ich werde wach und habe sie schon auf. Ich berühre das Holz, um zu wissen, wer ich bin. Ich wechsle sie, wenn ich English Breakfast koche und wechsle sie, wenn ich Assam koche, und wechsle sie, wenn die Sonne hinter der eisblauen Wolke verschwindet, und wechsle sie, wenn ich ein leeres Dokument öffne und „LARVEN-SATZ“ schreibe. Jetzt trage ich die Maske des Verräters.

Es ist ein geheimnisvoller, seltsamer Prozess: Jede neue Maske zwingt mich, die letzte, gerade abgelegte zu vergessen. Man muss sehr gut hinsehen, um den Wechsel der Masken mitzubekommen. Man muss sich sehr gut erinnern können, um sich zu erinnern, wer man eben noch gewesen ist. Dafür haben wir den Spiegel. Nicht, um uns zu erkennen, sondern um zu sehen, dass da nichts ist. Unter der Maske bin ich reines Masken-Programm, nichts von Wert, nichts.

Es gibt eine Stelle im Alten Testament, im Jesaja-Buch. Dort steht: „Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so daß man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden.“
Wenn die Arbeit an der neuen Welt abgeschlossen sein wird, wir die gerechte Bestrafung für unsere Verbrechen erfahren haben, die Prozesse der Heilung und des Wiederaufbaus geschehen sind, werden unsere Erinnerungen an die alte Welt ausgelöscht sein. Vergessen ist milde.

Vielleicht habe ich falsch gehandelt, indem ich dieses Geheimnis preisgegeben habe und behauptet habe, man könne spüren, wenn wir uns erneuern.

10 01 2025

Alle reden nur über Sex im Olympischen Dorf. Aber niemand redet über Sex im Paralympischen Dorf. Die ficken doch auch. – So ein Gespräch überhörte ich in der 8 nach Erlenstegen. Das ist so eine schöne Nürnberger Straßenbahn.
Ich frage mich ob die auch Kondome ausliegen haben, ob die auch Anti-Sex-Betten haben und sowas. Ich denke bestimmt. – Nürnberg ist so eine Stadt wo man sich eigentlich immer wohlfühlt, sogar jetzt wo es so unmenschlich stark regnet. Wenn man aus der Straßenbahn rausschaut dann sieht man diesen bestialischen Regen, auf der Straße fließt eine ein Zentimeter dicke Wasserschicht. Willst du wirklich jetzt aussteigen? – Das fragt wieder die mit dem Sex im Paralympischen Dorf – Du kannst auch noch bis zu mir fahren, vielleicht hört es dann auf zu regnen.
Es ist sehr unwahrscheinlich dass es bald aufhört, denke ich mir, Nürnberg wird heute wahrscheinlich mehr oder weniger überflutet. Wir können froh sein, wenn wir nicht nach Hause schwimmen müssen. Am Anfang der Bahnfahrt waren die Laternen nicht mal an, aber jetzt leuchten sie und der Himmel wird immer dunkler.
Ja, ich glaub ich fahr bis zu dir. Ich kann jetzt nicht aufstehen. – Wahrscheinlich sind das zwei Studentinnen die sich aus der Uni kennen und jetzt ein unverfängliches Gespräch in der Straßenbahn führen. Woher hätten sie wissen sollen, dass die Stadt Nürnberg heute Nacht von allen Sündern reingewaschen wird. Woher hätten sie wissen sollen, dass ein rechtschaffener, tosender Strom alle Sündigen aus der Stadt rausspült und sie irgendwo liegen lässt. Das hätten sie nicht wissen können. Es hätte einen Verrückten oder eine Verrückte geben sollen im Rosenaupark der oder die das vorhersagt. Aber die sind auch nicht mehr da.
Stell dir mal vor so eine Orgie im Paralympischen Dorf. Die schrauben so ihre Gliedmaßen ab... Oh mein Gott jetzt shhht. Hör jetzt auf. – Eine der beiden macht sich mehr Sorgen wegen dem Sturm als die andere. Es riecht aber sehr gut in der Bahn, nach Regen. Und es ist ja auch ziemlich warm. Es blitzt und donnert nicht mal. Vielleicht ist es auch gar nicht so schlimm. Vielleicht können die Sündigen doch noch bleiben. Dann hält die Straßenbahn an.
„Die Fahrt muss wetterbedingt unterbrochen werden. Wir warten auf Anweisungen von der Zentrale. Falls sie aussteigen wollen, die Türen sind freigegeben. Ich würde allerdings davon abraten.“
So und jetzt stellt sich jedem ehrlichen Menschen die Frage, draußen davongetragen werden und sterben oder drin bleiben und glanzlos verhungern. Ich stehe natürlich auf, gehe zur Tür und verlasse die Bahn. Ich habe keinen Regenschirm, weil ich nicht an sowas glaube und laufe durch den strömenden Regen bis zu einer Straße, die durch den Überhang der Häuser teilweise überdacht ist. Es ist nicht so weit bis nach Hause und ich kann auf weitere Ausführungen zu paralympischem Geschlechtsverkehr verzichten.
Ich bin schon bald komplett durchnässt, meine Haare sind klitschnass, das T-Shirt, die Schuhe natürlich, aber es ist nicht schlecht. Ich erinnere mich daran wie ich beim Hockeytraining als Kind absichtlich in Pfützen getreten bin um krank zu werden und nicht zur Schule zu müssen, natürlich klappte es damals nicht.
Beim Überqueren von Straßenbahnschienen trete ich in ein Loch. Es ist nicht wirklich ein Loch, sondern eher eine Grube, die aber durch das Wasser komplett verdeckt ist. Das Loch ist nur etwa vierzig Zentimeter tief, aber ich trete rein, falle nach vorne und stoße sehr schmerzvoll meinen Ellenbogen. Ich trete wieder raus und schaue mir den Ellenbogen an. Es blutet ziemlich stark, deswegen ziehe ich mein T-Shirt aus und umwickel ihn damit. So laufe ich oberkörperfrei, in strömendem Regen, mit einem blutenden, von einem T-Shirt umwickelten Arm zu meiner Wohnung in Erlenstegen. Ich höre keine Autos mehr, keine Menschen, keine Straßenbahnen, alles ist übertönt vom Regen. Es riecht nach Wasser, ich schmecke das Wasser, es blubbert in meinen Schuhen, es verdeckt meine Augen und läuft in Strömen meinen Körper runter.
Dann bleibe ich stehen. Ich bin die letzten 5 Minuten in die falsche Richtung gelaufen. Ich erkenne die Haltestelle, hier bin ich vorbeigefahren. Ich setze mich auf den Boden und lehne mich an eine Hauswand. Trag mich hinfort rechtschaffene Flut, ich kann nicht mehr. Ich schließe meine Augen in der festen Absicht sie ein paar Minuten später zu öffnen und in die richtige Richtung zu gehen. Das Wasser an meinem Körper wird langsam kälter.
Als ich die Augen wieder öffne steht vor mir eine Frau mit einem extrem vollgepackten Einkaufswagen, der Wagen ist zur Straße ausgerichtet, aber ihr Kopf ist in meine Richtung gedreht. Sie guckt mich an, ich gucke sie an.
Warum haben sie uns nicht gewarnt, dass eine Flut kommt? – Frage ich. Aber die Frau guckt mich nur an. Ich liebe obdachlose Menschen – fahre ich fort – ich denke sie haben eine sehr wichtige Funktion in der Gesellschaft. Aber sie müssen uns doch warnen. Sie müssen uns sagen wenn eine Flut kommt, dafür bin ich gern bereit zu spenden. Ich gucke nach rechts zu meinem Arm und sehe dass mein T-Shirt relativ rot ist.
Die Frau dreht ihren Wagen zu mir und schiebt ihn bis er neben mir gegen die Wand fährt. Sie beugt sich zu mir runter und sagt etwas Unverständliches. Ich verstehe Sie nicht – sage ich – es tut mir leid. Sie guckt in ihren Wagen und durchwühlt die Kartons und Tüten. Sie holt eine Tüte raus und wirft sie mir hin. Dann nimmt sie den Wagen, fährt rückwärts raus, dreht sich um und läuft weg. In der Tüte ist irgendein weicher Stoff den ich nicht zuordnen kann. Ich stehe auf aber mir wird so extrem schwindlig, dass ich mich wieder setzen muss. Dann lege ich mich hin und lege meinen Kopf auf die Tüte.

Ich hätte die Wunde nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen. Wahrscheinlich hab ich jetzt so viel Blut verloren, dass ich nicht mehr aufstehen kann. Und wenn mich der Krankenwagen findet, dann werden sie sehen, der Ellenbogen ist entzündet. Ich habe eine Blutvergiftung. Im Krankenhaus werden sie ihn amputieren müssen. Dann werde ich wieder aufwachen und irgendwann werden mich meine Freunde ohne Unterarm sehen. Sie werden mich aufmuntern und sich irgendwann daran gewöhnen, genau wie ich. Ich werde in die Reha gehen und dort Gefallen an den Übungen finden. Ich werde immer öfter Sport machen und mein Gefühl der Unzulänglichkeit durch hartes Training kompensieren. Dann werde ich einem Verein beitreten, zum Beispiel in Volleyball, ich werde trainieren und trainieren und trainieren. Irgendwann komme ich in die Bundesliga und irgendwann fahre ich zu den Paralympics. Dann bin ich im Paralympischen Dorf, teile mir zu zweit mit einem anderen Athleten ein Zimmer, schaue aus dem Fenster auf die Bungalows in Hanoi. Und auf dem Weg durch das Dorf sehe ich diese eine Athletin im Rollstuhl. Sie ist im Frauenteam der belgischen Rollstuhlbasketballerinnen. Nach den Wettkämpfen sehe ich sie wieder auf der Party im Paralympischen Dorf. Wir unterhalten uns und gehen irgendwann zusammen auf ihr Zimmer. Ich hebe sie mit meinem Arm und meiner Prothese aus ihrem Rollstuhl und lege sie auf das Bett. Wir schlafen miteinander, obwohl das Anti-Sex-Bett alles tut um uns daran zu hindern.
Ich mache die Augen auf und sehe die Flutwelle die mich aus der Stadt tragen wird. Also bin ich doch ein Sünder.

17 01 2025

„Als sie mich zum Chef gebracht haben, haben sie mir einen Sack über den Kopf gezogen und mich dreißig, vierzig Minuten im Kofferraum herumgefahren. Ich dachte, die bringen mich um. Die haben mich extra lange durchgeschüttelt, damit ich die Orientierung verliere. Als mir dann der Sack vom Kopf gezogen wurde, hielten sie mir ein Messer unters Kinn. So.“

Seine Augen waren geweitet, die Ader an seiner Stirn pulsierte. Wir waren am Tag nach dem Picknick vom Firmengelände hinunter zum Fluss gelaufen, nun spiegelten sich die Lichter im Wasser unter uns. Unser gestriges Gespräch hatte er, sobald wir uns über den Weg liefen, übergangslos wieder aufgenommen, und ich hatte ihm vorgeschlagen, einen Spaziergang zu machen, um nicht von den Kollegen belauscht zu werden.

„Später musste ich Leuten mit einem Korkenzieher drohen.“ Er hackte symbolisch auf seinen Oberschenkel ein, und fügte verzweifelt hinzu: „Sie haben mich gezwungen.“

Dann zeigte er mir die Narben von den Schüssen. An der Schulter und am Arm. Verstohlen schob er seinen Hemdsärmel beiseite. Er ermutigte mich, die Stellen zu berühren. Ich blickte mich um, die Flusspromenade war leer, und streckte die Hand aus. Steinhart. Zuerst dachte ich, die Kugeln steckten noch im Fleisch, aber nein, das war vernarbtes Gewebe, fest wie Knorpel.

„Diese hier ist aus dem Knast.“ Er zeigte auf seine linke Schläfe, drehte sich ins Licht einer Laterne, damit ich es sehen konnte. Der Schnitt war mir schon früher aufgefallen. „Einer hat ‘ne Flasche genommen und den unteren Teil zerschlagen. Mit dem abgebrochenen Ende hat er mir im Gesicht rumgefuchtelt. Ich hab‘ geblutet wie ein Schwein.“

Irgendwann begann er still neben mir zu weinen. Wir blieben noch eine Weile am Flussufer sitzen. Sein Gesicht war an meiner Schulter verborgen, und er schluchzte und wimmerte, offenbar gepeinigt von der Erinnerung an seine Gräueltaten, bis mein Pullover feucht von seinen Tränen war. Er hatte sich mir geöffnet, und aus der Öffnung dampfte sein Inneres hervor.

24 01 2025

Aus den Schubladen der Mutter fällt:

• der leblose Körper einer Biene, an deren Hinterteil Pollen zu erahnen sind;
• mehrere Slips aus schwarzer, weißer oder gemusterter Baumwolle von Aldi und Tchibo, in den Größen M, L, XL, die neben spröden Gummibändern und losen Fäden weitere Gebrauchsspuren aufweisen;
• fünf neuwertige, identische Baumwollunterhosen in Weiß, in der Größe S;
• eine handgezogene, klumpige Kerze in hellem Rot;
• ein geschärftes Klappmesser mit Perlmuttgriff, in den zwei Fische eingraviert sind;
• in einem weißen Organzasäckchen Muscheln in verschiedenen Farben und Größen, sowie zwei Pistazienschalen;
• eine zerkratzte Packung tic tac, fresh orange, noch halbvoll;
• ein Sudoku-Block aus Recyclingpapier, dessen erste Rätsel in den jeweiligen Schwierigkeitsstufen mit Bleistift ausgefüllt wurden, zwischen den Seiten einige Sandkörner;
• ein Bleistift, dessen Radiergummi hart geworden ist, so dass er die Schrift nicht entfernen kann, ohne eine deutliche Spur des Fehlers zu hinterlassen;
• mehrere Gold- und Silberringe der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter, in verschiedenen Größen, die auf ein himmelblaues Satinband gefädelt wurden, um dessen Schleife ein giftgrüner Plastikring in Froschform gesteckt ist;
• eine Packung Mentholzigaretten von Marlboro, darin fünf Zigaretten, aus denen Tabak gebröselt ist, sowie ein blau-transparentes Einmalfeuerzeug;
• eine gelbe Lernkarteibox, auf deren Kärtchen Englischvokabeln der 5. bis 7. Klasse in ungelenker Schrift stehen, die meisten der Kärtchen befinden sich in den ersten Abteilungen der Box;
• ein elfenbeinfarbener Würfel, dem die Augen abgefeilt wurden;
• eine halbleere Packung Milka-Pralinen in Herzform, unter der eingerollten Schutzfolie sind die verbleibenden Pralinen weiß angelaufen;
• ein abfotografiertes und ausgedrucktes Foto einer Maus, die mit Hilfe einer Leiter aus einem Sherryglas trinkt;
• ein rundlicher Flakon mit einer geringen Menge transparenter Flüssigkeit und einer milchigen Perle darin, der abgebrochene Zerstäuberkopf provisorisch mit Tesafilm befestigt;
• ein völlig ausgetrocknetes Kastanientierchen mit aufgeklebten Kulleraugen, Eichelhut und Zahnstocherbeinen;
• in einer blauen Juwelierschatulle eine Uhr mit der Gravierung "Zur Jugendweihe", das Armband eine grobe Gliederkette aus Silber mit Klippfaltschließe, stehengeblieben Dreiviertel Zehn;
• in einer Plastiktüte mehrere unbenutzte Spuckbeutel mit Mundstück und Gebrauchsanweisung;
• ein Handy-Charm mit strassbesetztem Fußballanhänger, dessen Oberfläche sich durch Reibung rötlich verfärbt hat;
• Strümpfe in allen Farben, davon mehrere deren Sohlen im Bereich der Ballen oder der Ferse nur noch aus feinen Fäden bestehen, und andere, die für besondere Anlässe aufgehoben wurden;
• ein Paar handgestrickte Socken der Großmutter für die Mutter, in Primärfarben geringelt, die an der Sohle an mehreren Stellen mit blauem Faden gestopft wurden;
• eine geöffnete Packung Orthomol immun onko;
• ein Zigarettenetui aus Metall, in dessen Deckel ein Spiegel geklebt wurde und in dem eine mit einem hellrosa Faden gebundene blonde Locke liegt;
• ein Stapel gebügelter Taschentücher mit Häkelspitzenrand und eingestickten Initialen der Mädchennamen der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter;
• eine geknitterte Packung Tempo, darin noch sechs Papiertaschentücher und eine gefaltete Binde der Marke always;
• ein Vampirgebiss aus Plastik in Kindergröße, in dessen Zahneinkerbungen dunkelgraue Fusseln kleben;
• eine runzelige Knolle, die sich nach aufmerksamer Pflege als Trägerin eines Keimlings entpuppt, der zu einem einzigen Spross heranwächst.

Annäherungen an G0tt

21 06 2024

Ein paar Tage zuvor angekommen, hält Eden Wache auf einem Posten am Berg Tabor. Er lehnt sich unbequem gegen das Geländer. Vor ihm gehen die Lichter an, in den Dörfern am Fuß des Berges. Hinter ihm schleicht der Wind durch die Bäume. Tagsüber ist wenig los. Jugendliche aus den umliegenden Dörfern fahren mit Mopeds den Berg hinauf. Man hört, wie die Motoren aufheulen und wie die Jungen sich gegenseitig anschreien, um den Lärm zu übertönen.# # # # # Beim Ankommen haben ihm zwei Soldaten die Einsatzregeln erklärt. Einer sprach und der andere mimte das Prozedere. Man rufe zum Verdächtigen, er solle stehen bleiben. Wenn der Verdächtiger zweimal auf die Einweisungen nicht reagiere, solle man damit drohen, zu schießen: Wakef, wala ana batuchek. Der Soldat nebenan nahm sein Gewehr, hielt es hoch und spannte es aggressiv an. Erst dann schieße man wirklich. Zuerst in die Leere. Dann vorsichtig auf die Beine. Wenn man sich danach immer noch bedroht fühle, schieße man höher. Er hob den Lauf mittig an.# # # # Von Süden aus sieht der Gipfel Berg Tabor spitz aus und von Osten aus rund. Am Gipfel sprach Gott aus einer Wolke und nannte Jesus seinen geliebten Sohn und im Taborlicht strahlte sein Gesicht wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Am Fuße des Berges wurde gebohrt, um Öl zu finden, aber ohne Erfolg.# # # # # Bei Hochzeiten wird in die Luft geschossen. Nicht einzelne Schüsse, sondern Dauerfeuer eines Gewehrs. Wind weht die Musik vom Dorf Richtung Berg und dann wieder woanders hin. Manchmal hört man die Schakale heulen. In anderen Nächten sind sie plötzlich ganz still. Es gibt kein Licht im Außenposten und auch nicht um ihn herum. Wenn die Sonne untergeht, verschwindet Eden in der Dunkelheit und mit ihm auch der Berg.

28 06 2024

Sie

Schlupfwinkel aller unreinen und abscheulichen Vögel, die in blutigen Feldzügen wandelt; dem reinen Fleisch in Schrecken unterworfen. Die heißen Atem, Hurenhauch entfacht, Blut Scheiße Kräuterfarbe ihre Pracht. Die so manchen Mann verrecken sah, isst sie das Fleisch der Stiere, trinkt das Blut der Böcke, gierige Zungen ergötzen sich daran. Einst groß und schön, hurte sie sich zu Tode, welkte hin, wurde zu Staub. Die das Opfer von Blut und Fett, das einst, gesalzen und mit Reizgerüchen gewürzt, den Gott speiste, Ihm einen Körper machte, an sich riss, und sich nicht genug tun konnte in dem hämmernden, mit der Faust schlagenden hohlen Ton, von geblähten Eingeweiden redend, frag- und grenzenlosen Gehorsam einfordernd. Der Ton war schön und empfand sich selbst als schön. Schön auf eine grausam bedingungslose Weise, im unverschämten Geiste des Fleisches.
Ihr Kuhreigen unerbittlich erklingt; Blut- und Wundenkult, die Mutter der Huren singt. Götzen lauscht sie ab, in diesem Reich; mit ihrer Unzucht hat sie die Erde verdorben. Oh Du Heilige, von den Schlachthöfen bekannt, Schönheit in Grausamkeit, absolut und rein, im Geist des Fleisches soll sie ewig sein.
Ihre Stimme, durch die die Welt erkrankt; Schöpfungsklänge vom Heiligen Terror entfacht. Blökende Predigt, frohe Botschaft aus den Schlünden der Tiere; alles was kriecht, preiset Die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde, denn sie war trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu.

Ausgeburt des Exzesses, Orgie der Verschwendungssucht; Meute, die sich zusammenschart um all das, was ihre Geilheit heraufbeschwört; Kuhreigen des schizogamen Zornweingedankens in ihrem goldenen Becher, in den sie den Wein doppelt so stark reingespuckt hat. Das letzte Abendmal wird zur heiligen Trunkenheit und das Blut der Zeugen Jesu, welches in ihr verdorben war, speiste die vielen Gläubigen und sie speiete es aus und sie wurden alle trunken davon, die Priester Gottes und das Licht und die Farben und der Gesang der Jünglinge und das anorektische Mädchen und der Mond wurde rot wie Blut und das Heil und die Macht und die Herrlichkeit ist ihr von den abscheulichsten aller Tiere dieser Erde und allem, was auf dem Boden kriecht, verliehen worden; O wunder Mond, Blut jungfräulicher Unberührtheit, O Götzen, entzückt eure Priester, entzückt uns zu erster und letzter Lust, erhitzt unser Blut, dass es zischend am kalten Mond verrauche! O roter Mond!

Die Hure sang, ein Lied der Unzulänglichkeit erklang. Fünf Stimmen, sich zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend; drei Tage lang Todesmadrigale singend, von den bebenden Lippen scheußlicher Götzenbilder, in Ewigkeit geweiht. Zittere, Du bebendes Geschöpf! Spiele und singe das Heilige Hohelied des Brand- und Schlachtopfers der bunten Kuh!

Die Hure sang
Wenn jemand aus dem Volk ohne Vorsatz sündigt, weil er etwas vor der großen Tempelhure Verbotenes getan hat, so wird er schuldig. Er soll die Hand auf den Kopf des Sündopfers legen und es dort schlachten, wo man das Brandopfer schlachtet. Der Priester soll mit seinem Finger etwas vom Blut auf die Hörner des Brandopferaltars tun und dann das ganze Blut am Sockel des Altars ausgießen. Er soll das ganze Fett ablösen, wie man das Fett eines Heilsopfers ablöst, und der Priester soll es auf dem Altar in Rauch aufgehen lassen als beruhigenden Duft für die Hure und so für sie Versöhnung erwirken; dann wird ihm vergeben werden. Er soll die Hand auf den Kopf des Sündopfers legen und es dort schlachten, wo man das Brandopfer schlachtet. Der Priester soll mit seinem Finger etwas vom Blut dieses Opfers nehmen, auf die Hörner des Brandopferaltars tun und das ganze Blut am Sockel des Altars ausgießen. Das ganze Fett soll er ablösen, wie man das Fett des Schafes eines Heilsopfers ablöst. Der Priester soll die Fettteile mit den Feueropfern des HERRN auf dem Altar in Rauch aufgehen lassen und für ihn so Versöhnung erwirken, um ihn von seiner Sünde zu lösen, die er begangen hat; dann wird ihm vergeben werden

Mit der Mundpeitsche ihrer Geißelung hat der Großen Mutter Hure alle Völker Rassen Stämme betrunken gemacht mit dem Zornwein ihrer Hurerei.

Eine Gruppe von drei nackten Jünglingen aus dem Feuerofen bietet sich den Priestern als Blutopfer an. Aufpeitschende Monotonie, Posaunen, Trompeten, Krummhörner, Pfeifen und Orgeln, und dazu singt man auch daher; da hört man schändliche und unehrliche Buhllieder und Gesang. Die, deren Blut geschändet werden sollte waren keusch wie der Mond.

Wie sich der heilige Bläserklang in die Jünglinge einfickte, rieb sie sich an ihren Bluteicheln; mit Hunden hat sie sie hinweggehetzt. Jetzt unter ihren Hunden wütet sie mit schaumbedeckter Lippe, und nennt sie Schwestern; wie eine kleine Prinzessin, deren Füße weiße Tauben sind, tanzt sie durch die Felder, hetzt sie die Meute, gleich einer Hündin die ein Menschenschoß gebar, Hunden beigesellt; den Zahn schlägt sie in die zarten Jünglingsbrüste, sie und die Hunde, im Scharlach ihres Blutes sich wälzend.
Hinweg!, sprach sie zu den Hunden, gesättigt bis zum Ekel schon. Ich will sie sehn!
Sie mag keine Toten sehen, außer wenn sie selbst gemordet hat. Blutopfer! Blutopfer! Tochter einer blutschänderischen Mutter; der Menschen Hände bändigen sie nicht mehr.

Das Volk fällt angesichts des Opfers in einen Rausch von Selbstmord und Geschlechtsverkehr und sinkt schließlich erschöpft in den Schlaf.

In diese Welt aus Schein und Zucht drang der ekstatische Ton, den gewaltsamen Tod zu preisen; zum Lob und Preis der Hure, wie aus einem Mund, der den Himmel erprobte; denn sie ist ewig währet ihre Schuld, das Unmaß ihrer Sünden schreit zum einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und unvorstellbaren Gott:

Fresst euch satt an ihrem Hurenfleisch,
Denn in ihr ist das Blut von Propheten und Heiligen gefunden worden und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind.
Alles, was Atem hat, preist sie mit Macht und Lust, preiset sie mit Jubel alle Tiere der Erde,
Denn sie ist gefallen, aber sie hat sich nichts gebrochen.

05 07 2024

Das Baby liegt im Gitterbettchen und wirft im Halbschlaf den Kopf hin und her, nuckelt schmatzend an der Hand. Er, der Vater, schreckt im Bett daneben aus einem wirren Traum auf und dreht sich auf den Rücken. Er setzt sich hin, sortiert den Raum. Es hat wieder Hunger.

Die Fläschchen hat er gestern vor dem Schlafengehen vorbereitet: zwei Messlöffel Milchpulver, eine Thermoskanne warmes Wasser, zwei Tropfen auf die Innenseite des Handgelenks. 38 °C.

Es ist die dritte Flasche heute Nacht. Das Baby liegt in seinen Armen, nuckelt zufrieden vor sich hin und strahlt Ruhe aus. Die Nähe zwischen ihnen vertreibt den seltsamen Traum, dafür meldet sich sein leerer Magen. Er legt das Baby, als es wieder eingeschlummert ist, behutsam ins Gitterbett und lässt die Hand für eine Weile auf dem kleinen Körper ruhen. Der Atem fließt gleichmäßig. Es wird weiterschlafen.

In der Küche springt der Kühlschrank an.

Er ist müde und will sich wieder hinlegen, kann aber nicht. Genau an der Stelle, an der er eben noch lag, ragen ellenlange Stacheln aus der Matratze. Lang, dünn und schwarz durchstechen sie das Laken. Er runzelt die Stirn und fährt mit flacher Hand über die Spitzen der Stacheln, die bei der Berührung leicht erzittern.
Plötzlich zieht sich sein Magen zusammen. Er beugt sich hastig über das Babybett und betastet mit klopfendem Herzen die Matratze. Sie ist weich, kuschelig. Das Baby seufzt zufrieden.

Er wartet einen Moment, bis sein Atem sich beruhigt hat. Dann greift er nach dem leeren Fläschchen und geht in die Küche. Dort stellt er es in die Spüle, öffnet den Kühlschrank und blickt für einen Moment ins helle Nichts. Das Licht der Innenbeleuchtung flutet die Küche und blendet. Er kneift die Augen zusammen. Da ist O-Saft. Toast.

Sein Blick fällt auf etwas Dunkles, Rundes in der linken hinteren Ecke des oberen Kühlschrankfachs. Wie aus dem Nichts drückt sich dort ein Seeigel an die feuchte Rückwand des Kühlschranks. Eine stachelige Pupille zwischen Butter und Marmelade.

Er nimmt den O-Saft, trinkt einen großen Schluck und betrachtet das Tier. Hinter dem Seeigel glänzt etwas Schimmel und einige seiner Stacheln stecken in der Butter. Er stellt die Lebensmittel beiseite, beugt seinen Oberkörper weiter ins Licht und legt den Kopf direkt neben dem Tier auf das kalte Glas des Kühlschrankfachs.

Die Stacheln bewegen sich vor seinen Augen sacht hin und her. Sie scheinen einer anderen Zeit anzugehören. Er kneift die Augen zusammen, um zwischen den Stacheln das Rund des Körpers zu erkennen. Doch sein Blick verliert sich, denn die dichte Schwärze des Tiers verschluckt das Licht der Kühlschranklampe vollständig.

Er schmeckt Salz. Er streckt, einer seltsamen Lust folgend, seine Zunge nach der nächstgelegenen Stachel aus. Er schließt die Augen und stürzt, als seine Zungenspitze die Stachel berührt, kopfüber an den Anfang.

12 07 2024

Die Bilder sind Ausschnitte, aus Schnitten gebildete Orte, dazwischen Lücke, in der Vorstellungskraft sich ausbreitet, gleich Brombeerranken auf Brache, Ruine, Rahmen. Durch Variation werden Blätter und Dornen zu Betten und Finger, an der Oberfläche geschnitten, sammeln Kratzer, Vorgartensubsistenz, Wohnzimmergroßhandel und eine Staubwolke auf den Great Plains, die als Ikone der Wirtschaftskrise verwahrt wird.

Es war kein Priester dabei, als der Vater starb, um die Seele in die richtige Richtung zu schicken. Dafür bei der Geburt. Die Szenerie ist ungefähr so vorzustellen: ein Bett, beide Male. Nur der Geruch ist anders.
Ein Türchen zum Innenhof des Pfarrhauses schwingt nach außen. Licht fällt auf die schmale Treppe, frische Luft drückt hinein, heraus drückt Abgestandene sowie ein Priester. Er geht, ganz in schwarz, wie es sich gehört, zum Fahrrad, das im Schatten der Remise an der Hauswand lehnt, unausgeschlafene Frühlingsschritte, es ist ein Sonntag im Mai, schiebt das Rad durch die gemauerte Toreinfahrt, über Kopfsteinpflaster, oder besser, über einen Weg aus festgetretener Erde, und steigt auf, als niemand zusieht. Ein Priester auf dem Rad, mit wehendem Rock, auf dem Weg zum Horizont, ist erhaben; nur das Aufsteigen ist ungelenk. Der Priester ist in Ordnung, warum nicht, er hat noch keine Pflichten verletzt, den Mitmenschen gegenüber und Jesus Christus (Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meiner Herde!), denn das große Unrecht ist noch nicht vorhanden, nicht mehr lang, ganz bald wird er nichts unternehmen, aber noch heißen die Sorgen Hunger, Arbeitslosigkeit, Jenseits.
Stehend auf nurmehr einem Pedal, zum Absitzen bereit, ist das Ende der Fahrt angezeigt. Ein Haus am Stadtrand. Es liegt darin eine Mutter in den Wehen. Es riecht nach Kautschuk und Brot. Die Mutter ist alt, über vierzig, also muss das kleine Ding gesegnet werden, bevor es zurück in den Himmel geht.
Es ergibt sich, dass der Priester seinen Segen austeilt, aber hinein in ein, zweifelsfrei lebendiges, ohrenbetäubendes Schreien, und gewissermaßen ohne triftigen Grund, weil der Vater noch nicht stirbt, sondern erst neunzig Jahre später, ganz ohne Priester. Aber weil der Priester in Ordnung ist, im Moment der Segnung, schadet der Segen nicht und der Schrei geht, vielfach modelliert und verbessert, lange, lange weiter.

In der Wiederholung werden Blätter und Dornen zu Schemata, entfernen sich in zunehmender Abstraktion und nähern sich an, indem sie Zuordenbarkeit und Geltung gewinnen. Ein frommer Mann empfängt die Nachricht über die Nichtexistenz Gottes aus einem willkürlichen Muster, also von Gott selbst. Das traditionelle Gewand ist Massenware, die Bewegung im Fahrtwind in Formeln zu beschreiben. Die befruchtete Zelle wächst heran, ohne Zustimmung, gleich der Bewegung von Erde und Sonne, unter einem Schleier des Geheimnisvollen.

Etwa zehn Jahre später sinkt die Sonne über den Sportplatz und produziert so absichtslose wie angenehme Lichteffekte. Um den Sportplatz ist ein Zaun gezogen, er trennt Gelände von Gelände. Auf der richtigen Seite ist Rasen, Kameradschaft wie auch eine Zukunft für die Körper, die in Ordnung gebracht sind. Alles andere ist auf der falschen Seite.
Zu sehen ist eine kleine Horde Jungen in kurzen Hosen, als Kinder zu erkennen an knolligen Knien und dünnen Oberschenkeln. Der Vater ist dazwischen und von den anderen nicht zu unterscheiden. Hier steht die Jungend unter freiem Himmel und freier Sonne und wird bewegt, denn die Energie, die sie freisetzen kann ist ungeheuer. Ein Junge ist der Anführer, wie in der Natur. Seine Autorität ist umso griffiger, weil er auf den Anlaut verzichtet. Ein paar Jahre ist er älter, und Teil der Bewegung, und wenn ein Kind nicht tut, was er sagt, sagt er es nicht noch einmal, schließlich ist Krieg. Dafür brüllt er, wie aus dem Radio bekannt, richtig zackig, knackig wie ein knackendes Radio, runter, drei Runden um den Platz, Liegestütz, los. Der Vater aber kennt den Jungen, nicht seine Funktion im Apparat, aber sein armseliges Elternhaus, so ein Aas, der hat mich nicht anzubrüllen. Also duckt er sich weg, rennt weg, nimmt die Beine in die Hand (das einzige, das man wirklich nicht in die Hand nehmen kann) und verschwindet über den Zaun.

Die Ranke umwächst die Bilder, trennt sie ab, verschiebt sie ins Symbolische. Das Geschehen wird zum durchlässigen Vorwand dessen, was nicht geschah. Tradition tritt auf, um den Bruch mit ihr zu verschleiern, das Nibelungenlied als Ohrwurm im Radio. Fasern und Blätter, Dornen werden Platzhalter anderer Eventualitäten.

Ganz in der Nähe des großen Platzes liegt eine kleine Straße, deren linke Seite aus dem Krieg als Siegerin hervorgegangen ist. Es geht vorbei an den ordentlich geschichteten Trümmern zur Rechten und auf eine Tür zu, der man in der Dunkelheit ihre grüne Farbe nicht ansieht. Die, mit dem ernüchterten Messingklopfer, der, nunmehr unberührt, schwingend die Bewegung der Tür nachzeichnet. Im dritten Stock eine Zweizimmerwohnung, die von einer Dame und ihrem Untermieter bewohnt wird. Er ist der Vater sowie Musikstudent mit dicken Backen und Augen von der gekünstelten Traurigkeit eines Hollywoodstars. Er hat ein ordentlich gemachtes Bett, umso ordentlicher, weil er davor liegt auf dem Läufer, den Wecker als Kopfkissen. Er muss um halb drei wach sein. So ist es besser, auf dem harten Boden zu liegen, als im weichen Bett, weil der Schlaf weniger tief ist und der Übergang weniger schmerzhaft. Wund fühlt sich das Hirn trotzdem an. Das Zimmer kommt ohne Dekoration aus und tagsüber sind Straßenbahnen zu hören. Es gleicht dem Gesicht eines Mannes, der in einem Dreiteiler aus verschlissener Wolle an der Ecke steht, die Hände in den Taschen und den Hut tief ins Gesicht gezogen, auf keine Straßenbahn wartet und nie darüber sprechen wird, was er in Erfahrung gebracht hat.

Jedes Blatt ist einzeln vorhanden, jede Blüte verkörpert die Realität einer süßen Frucht. Das Bett liegt unberührt, eine Senke, ein Beet. Gesichter wechseln ihre Träger, Amerika nähert sich, produziert, wenn es wach ist: Ein Zimmer, ein Karton, Kokon, horizontale Metamorphose, platzsparend geschichtet.

Der Vater läuft einen Korridor hinauf und wieder hinab, tritt mit schwingenden Armen in die Umkleidekabine, berührt nichts, singt Tonleitern im Falsett. Beobachtet die Wand. Jemand kommt rein, sagt, die Reihen haben sich gefüllt. Der Vater atmet gegen sein Herz. Der Bretteraufbau an der Stirnseite der Stadthalle ist genau der Ort, an dem er ankommen wollte, obwohl die Angst, die dort wartet, so überwältigend ist, dass das Herz davon anschwillt, wie das eines Sportlers. Die Zuschauer sind gekleidet, als erinnerten sie die Lebensmittelkarten nicht mehr und ihr Enthusiasmus für hohe wie auch reine Kultur ist immens, man denkt wieder ungebrochen über Deutschland. Dazu ein paar lose Groschen in den Hosentaschen, die Stadthalle ist nicht die Scala, doch es gibt zu hören: das hohe Lied. Der Vater also steht vor Publikum in weiten Hosen und Hüten und Gesprächen und ist ganz umschlungen von seiner Angst, was als Sausen in den Ohren zu bemerken ist. Jede Bewegung ist Lärm, im nächsten Moment aber schsch, was ist es still und der Pianist fällt wie ein Betttuch in plötzlicher Flaute, weil auch von angehaltenem Atem begleitet, Richtung Tasten und es kommt: Bedeutung. D-Dur, eine Stufe, noch eine, in geziert dehnenden Achteln, an den richtigen Punkt und sich teilend als federnder Bogen in die Höhe und flacher hinab. Da ist der letzte Atemzug des Vaters als sei er verliebt, unglücklich verliebt in seinen Einsatz: du holde Kunst. Ohne Gefühl wäre es wertlos.

Die Ranke schert sich nicht um Geschichte, umwindet Denkmäler, verhüllt sie, verziert, bringt sie zuweilen zum Einsturz. Ihre Einzigartigkeit ergibt sich aus keiner Gestalt, folgt einzig aus Positionen, Korrespondenz.

Der Vater ist nicht mehr jung, aber noch stark. Er ruft seinen Sohn zu sich, der so klein ist, dass alles, was weiter als dreißig Meter und länger als fünf Minuten entfernt ist, als Traum erscheint. Der Sohn will nicht, dass der Moment endet und kommt nicht, läuft weg, wie der Wind so schnell.
Vom Vater verfolgt, klettert er auf einen Baum, der aber nicht hoch ist, sodass der Vater seinen Fuß mühelos zu fassen kriegt.
Die Landschaft sieht aus wie ein Spielplatz, ist aber tatsächlich Landschaft: weit, verschachtelt, bedeutungsschwanger. Der Baum, auf den der Junge flieht, ist schon über das bewohnte Gebiet hinaus, er ist in der Wildnis der Büsche drüben, die zu betreten ein Kind keinen anderen Grund hat als die Flucht. Es ist ungeheuerlich, dass der Vater ihm dahin folgen kann, auf die weiße Fläche der Karte, wohin er sich selbst kaum mitnehmen kann.
Der Vater, hier als Mann, seine Haut bräunt schnell, hat schon viel erlebt, davon weiß so ein Sohn aber nichts. Er steht und redet mit einer Mutter, die Traurigkeit eines Hollywoodstars aus früherer Zeit um die Augen. Ihm gleicht die Situation dem Verschieben eines feuchten Haufens Sand. Der Vater ist Autodidakt im Zwischenmenschlichen, hat mit Frauen nicht an Festtafeln umzugehen gelernt, sondern in freier Wildbahn. Es ist kein Skript da, das mit verschränkten Armen auf dem Spielplatz eines Kindergartens aktiviert werden kann. Die einzige Kompetenz hier ist Reden mit verschränkten Armen, die in Nachbarschaft und Kleingarten-Kieswegen ihre Vorlage hat. So beschreibt der Wunsch des Vaters das Gegenteil desjenigen seines Kindes: dass es ende. Und so sehr sich der Kleine festklammert, es gibt kein Halten, und mit einem kräftigen Ruck, vom Vater als mäßig empfunden, vom Kind als ungeheuerlich, die Hände wie Rinde in Fetzen reißend, pflückt der Vater das Söhnchen vom Baum.

Als Gegenteil von Raum und Zeit ist die pflanzliche Form ganz flächig, denn in jede Richtung könnte sie einen Weg finden, zum Schrei, aufs Bett, ins Publikum, Biegung, Blätter, Dorn.

Der Vater, sehr alt, biblisch alt, liegt auf einer Luftmatratze, damit ausgelassen werden kann, falls wiederbelebt werden muss. Auf weichem Untergrund geriete ein Körper als Ganzes in Schwingung, wobei die Bewegung zwischen Rippen und Grat, innerhalb des Körpers, herbeigeführt werden soll. Die Stimme klingt, ganz ohne Stimmbänder, wie ein Strohhalm beim letzten Schluck. Es riecht nach Tee und Feuchttüchern. Es ist kein Priester dabei. Am Ende werden die Rippen wie Gummi und die Lippen werden wie das Meer, blau, oder die Ewigkeit. Wird aber das Herz durch rhythmischen Druck in Bewegung gebracht, werden die Lippen wieder rot.

Die Ranke unterliegt keinem Rhythmus des Wachstums, sie ist immer schon da gewesen. Ihr Ausklang schließt mit dem Anfang, lose Fäden, die der Wind bewegt, wartend, dass die Fasern sich trennen, entzwirnen.

IRL

03 11 2023

Marlene sagt: Manchmal muss ich weinen, weil ich plötzlich daran erinnert werde, dass mein Leben wie ein schöner Traum ist, und warum muss ich daran eigentlich erst erinnert werden? Warum begleitet mich dieser Gedanke nicht durch jede Sekunde meines Daseins?

Marlene liebt ihr Leben, und sie liebt natürlich auch ihren kleinen Bruder. Aber die Liebe, die sie für ihr Leben empfindet, ist doch von einer anderen Art als die Liebe, die sie für ihren kleinen Bruder empfinden muss. Indem wir lieben, erschaffen wir das Objekt unserer Liebe noch ein zweites Mal; wir erschaffen uns den Gegenstand unserer Liebe als einen, den zu lieben wir tatsächlich im Stande sind. Marlene kann ihr eigenes Leben deshalb aufrichtig lieben, weil sie es sich selbst geschaffen hat. Sie hat es sich geschaffen, indem sie immer hart gearbeitet hat auf ein Ziel hin, das sie sich gesetzt hat.

Aber Marlene sagt auch: Ich hätte es nie geschafft, wenn ich nicht beschlossen hätte, dass das, was ich will, gut ist. Die Dinge sind nicht von Natur aus gut oder schlecht. Man muss sich entscheiden, das Gute in ihnen zu sehen oder eben nicht.

Tobias sagt: Wer von mir trinkt, der wird durstig sein, und wer von mir isst, der wird hungrig sein. Was ich damit sagen will ist, dass ich ein Loch bin ohne Boden, für alle, die mich lieben wollen, aber eben auch für mich selbst.

Marlene kann es nicht mehr hören, und wenn sie in Frankfurt ist, dann besucht sie ihren Bruder schon lange nicht mehr gerne in seiner Wohnung an der Bockenheimer Warte. Tobias wohnt immer noch in dieser Wohnung, jetzt, wo Marlene daran denkt, ist es völlig absurd, dass Tobias immer noch in dieser furchtbaren Wohnung wohnt, wo sich doch alles so verändert hat in den letzten Jahren, aber sie wohnt ja auch schon seit fünf Jahren in der Wohnung in der Nähe des Place de la République, aber das ist doch etwas anderes, denkt Marlene.

Marlene hat Angst, wenn sie an die nächste Präsidentschaftswahl denkt, und das ist wirklich eine ganz echte Empfindung. Bald wird Marlene auch die französische Staatsbürgerschaft haben (wenn sie und Matthieu heiraten), und dann wird sie in Frankreich Macron wählen und in Deutschland die Grünen.

Marlene, die sonst niemals hasst, hasst Tobias, weil sie ihn lieben muss, und weil er es ihr so schwer macht, sie zu lieben. Tobias hasst Marlene, weil sie ihn an seine Schuld erinnert, und an seine Schuld muss Tobias nicht erinnert werden, im Gegensatz zu Marlene, die daran erinnert werden muss, dass ihr Leben schöner ist als der schönste Traum, den sie träumen könnte, und dass dagegen jeder echte Traum immer nur ein Albtraum sein kann.

Wenn Tobias nachts sein frisch vollgewichstes Soft-und-Sicher-Taschentuch wegschmeissen will, dann muss er nochmal aus seiner Wohnung auf die Toilette am Flur, die er sich mit den anderen Einzimmerwohnungen auf dem Stockwerk teilt, so wie die Ausländerfamilie, die sich eine der Wohnungen auf dem Flur teilt, oder er legt das nasse Taschentuch bis zum nächsten Klogang auf die Heizung. Im Kontext seines Hauses ist Tobias egoistisch, weil er allein in seiner Einzimmerwohnung wohnt, während sich nebenan eine Familie den selben Raum teilt.

In Marlenes Kopf ist Tobias egoistisch, weil er in seinem Kopf eine perfekte Version unserer Gesellschaft entwirft und dann beleidigt ist, weil die echte Welt nicht so ist. Tobias hätte jede Möglichkeit gehabt (und, mit gewissen Abstrichen, hätte er immer noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten), aktiv an der Verbesserung dieser Welt mitzuarbeiten. Aber anscheinend, denkt Marlene, hat Tobias daran überhaupt kein wirkliches Interesse, und er hat es sich stattdessen eingerichtet in einer hoffnungslosen Welt und in einer Hoffnungslosigkeit, die ihn bequemerweise von seiner Verantwortung entbindet.

Marlene sagt nichts davon zu Tobias, wenn sie ihn besucht. Sie weiß, dass sie Tobias’ Meinungen nicht als Meinungen begreifen darf, sondern dass sie sie mit Verständnis betrachten muss, weil sie nur Äußerungen sind einer Krankheit, die keinen Namen hat, weil Tobias sich weigert, sie als Krankheit zu begreifen, aber sie hasst Tobias insgeheim dafür, dass er nicht seinen Teil tut.

Marlene hasst Tobias, wie man nur einen Kranken hassen kann und wie man nur hasst, wenn man gezwungen ist, zu lieben und Mitleid zu empfinden und moralisch in die Ecke gedrängt wird und keine Wahl hat. Das Lieben und die Barmherzigkeit sind nur so lange edle und erhebende Gefühle, wie man sie aus freien Stücken und aus eigener Entscheidung ausübt. Wer aber nur liebt, weil geliebt werden muss, der tut ja nur, was er eh soll und weil er ein Arschloch ist, wenn er es nicht tut.

Das Treffen zwischen Bruder und Schwester ist kurz und Marlene fragt gar nicht erst nach Zucker oder Milch für den ekelhaften Kaffee, weil ein Blick genügt in die dunkle Küche mit den leeren Schränken und der Schachtel Jodsalz auf der Arbeitsfläche. Es sind so viele Dinge, nach denen Marlene lieber nicht fragt, dass sie am Ende gar nicht mehr weiß, wonach sie Tobias überhaupt fragen soll.

Die ganze Zugfahrt hindurch und noch bis in ihre Wohnung hinauf antwortet Marlene in ihrem Kopf auf all die Sachen, die Tobias gesagt hat, über die Europäische Union und über Russland und über Hegel und Fichte und über die Maßnahmen, und in ihrem Kopf antwortet sie vernichtend und triumphal und wünscht sich, dass sie mittags in Frankfurt so geantwortet hätte, anstatt dem, was sie stattdessen nicht gesagt hat und anstatt der mitleidigen Blicke und mitfühlenden Fragen und aufgezeigten Optionen von Therapie und Arbeitssuche.

Marlene isst ihr bestelltes Essen und schaut auf dem Handy erst Tagesschau und dann Daily Show, aber sie kann heute nicht lachen und vergessen beim Anblick von Trevor Noahs freundlichem Gesicht und nur zustimmen, was nicht befriedigend ist, weil Tobias in ihrem Kopf mit schaut und sich lustig macht über Trevor Noah, so, wie er sich lustig macht über Stephen Colbert, und bitter erinnert sie sich daran, wie sie früher zusammen gelacht haben über Noah, Colbert und John Oliver. Der Bericht über Niger in der Tagesschau hat sie unruhig gemacht, obwohl Matthieu ja gar nicht in Niger ist, sondern in Mali, der Bericht mit den wütenden Männern, die schreien, dass sie die Demokratie hassen und den Westen und ganz besonders Frankreich, obwohl man das natürlich verstehen muss und es außerdem bestimmt eh nur vom Militär bezahlte Demonstranten sind und das echte Volk bestimmt keineswegs die Demokratie hasst, aber trotzdem.

Marlene wünscht sich, dass Matthieu jetzt hier wäre bei ihr, und nicht in irgendeinem Hotel in Bamako, aber sie möchte ihm das auch nicht schreiben jetzt, weil sie ja weiß, dass Matthieu sie auch vermisst und sich nur schuldig fühlen wird, wenn sie ihm nun schreibt, dass sie ihn gerne hier hätte, und weil sie ja eigentlich stolz darauf ist, dass Matthieu dort so wichtige Arbeit leistet und sie ihn liebt dafür, sich in ihn verliebt hat, weil er dort so wichtige und schwierige Arbeit leistet, und es ist ihr egal, dass er dafür viel weniger verdient als sie bei der Europäischen Union verdient.

Marlene träumt, dass sie in einem Büroraum ist mit Ventilator an der Decke, und schwarze Männer in Uniformen haben Matthieu an einen Bürostuhl gefesselt und Matthieu hat große Angst, das kann sie sehen, aber sie ist machtlos, sie ist nur ein Paar Augen in diesem Raum und hat keinen Körper. Der Mann am Schreibtisch hat die Beine mit den schwarzen Stiefeln auf den Tisch gelegt und trinkt ein Budweiser und lacht, lacht, während seine Untergebenen Matthieu ein Ohr abschneiden und dann das andere, und alle lachen, und Traum-Marlene schießen die Tränen in die Augen vor Zorn und Machtlosigkeit und sie schreit, dass die Männer doch statt Matthieu Tobias foltern sollen, aber niemand hört sie, und der Offizier trinkt weiter sein eisgekühltes Budweiser, während seine Männer Matthieu auslachen, der vor Schmerz weint und der niemals jemandem etwas getan hat und der Schulen aufbaut in Mali und den doch alle lieben.

Marlene wacht auf und schämt sich sofort dafür, wie sie geträumt hat von den schwarzen Männern, und dann schämt sie sich auch ein bisschen dafür, wie sie im Traum über Tobias gedacht hat, über ihren Hass auf Tobias, der sich im Traum Bahn gebrochen hat. Ihr Hass befremdet Marlene, weil er nicht zu ihr gehört, weil er zu Tobias gehört und den Menschen, die leider wie Tobias sind, und denen man helfen muss.

Marlene geht hinaus auf den Balkon und schaut über Paris bis hinüber zu Montmartre, wo sie als kleines Kind bei ihrem ersten Besuch in Paris Angst hatte vor den Schwarzen, kindische und irrationale Angst, für die sie sich jetzt in diesem Moment schämt, und um sich abzulenken öffnet sie die französische Zeitung auf dem Handy und liest, dass in Marseille ein ganzes Haus zusammengestürzt ist und alle Bewohner unter sich begraben hat, und wie wäre es wohl wenn das das Haus von Tobias gewesen wäre, und ob und wie genau sie dann weinen würde.

Tobias weint, weil es wieder nicht funktioniert, sein Gesicht zieht sich zusammen und sein Mund steht offen, egal wie lächerlich er es findet in diesem Moment und wie gewaltsam er versucht, es zu beenden, weil wieder dieser Moment eingetreten ist, in dem es nicht mehr funktioniert, die Flucht nicht mehr funktioniert und es ihn einholt, dass sein Versteck kein sicheres Versteck ist, weil es nur ein räumliches Versteck ist, aber er sich nicht verstecken kann vor der Zeit, die mitleidslos verstreicht, und vor denen, die vielleicht jetzt noch gezwungen sind, ihn zu lieben, die ihn aber zwangsläufig irgendwann hassen werden.

10 11 2023

Die Holzbänke in Arlington waren mit einer dünnen Lackschicht überzogen. Der zarte Film, der sich in den Furchen und Rillen der Marmorierung festgesetzt hatte, schimmerte gelblich und wirkte als dünne Membran zwischen dem ungeschützten, rohen Material und der Außenwelt, die sie nahtlos umschloss.

Über Nacht musste mir ein mittelschwerer Gegenstand aus einer gewissen Höhe ins Gesicht gefallen sein, denn ich blutete beim Aufwachen stark aus meiner Oberlippe auf das weiße Kopfkissen. Das Licht der aufgehenden Sonne warf sich schräg durch den kleinen Raum auf ein genopptes Buntglas, das die Strahlung auffächerte und sternförmige Kammern gleichmäßig über die Wand verteilte. Ich rasierte mich im Bad und beobachtete unter der Dusche heimlich die in sich geschlossenen Gesten meiner Hände unter dem gleichmäßig rieselnden Wasser, der abgespreizte Ringfinger stand in einer kongruenten Achse zu dem leicht nach unten abgeknickten Handgelenk, das ich immer wieder verwundert nach unten und dann wieder nach oben drehte. Ich versuchte, meinen Körper bei etwas zu ertappen.

Auf der Busstrecke von Dorset nach Arlington fuhr ich an dem schwarzen Steinobelisken vorbei, der sich wie eine Art Granitzapfen aus einem Waldstück über eingeschössige, flache Bungalows am Hang in die Höhe schraubte. Milchiges Licht traf auf einen etwas steril wirkenden Wald. Die Landstraße schob sich wie ein feuchter Gürtel unterhalb des Mount Equinox entlang und obwohl die Sonne schon aufgegangen war, brannten noch Lichter über den Parkplätzen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem es nur leicht aus einem blassgrauen, dreckigen Himmel regnete und ich nach einem kürzeren Aufenthalt in der eiskalten Community Library einsam über die freigelassenen Flächen des örtlichen Friedhofs lief. Die Grabsteine waren überraschend dünn, das Licht floss den Hügel hinab und ließ sie schattenabwärts beugen. Die nummerierten Steinstehlen ragten wie die Kirchtürme einer Stadt kahl über das Häusermeer. Auf dem blutrot grundierten Hinweisschild am Ausgang des umzäunten Grundstücks war von dem Manchester Vampire zu lesen. Man hatte eine gewisse Rachel Burton um das Jahr 1792 exhumiert und über einem feuchten Laubhaufen verbrannt. Ihr Grab lag östlich von hier. Wo genau, darüber machte das Schild, das von der William C. Pomeroy Historical Foundation, die ihren Sitz am alten historischen Feuerhäuschen hatte, keine weiteren Angaben. Das Emblem oberhalb der Schrift zierte ein Halbmond mit Gesicht, um den sich ein Wolkenmeer und mehrere sternschnuppenartige Erscheinungen wanden.

Der weißverchromte Zug fuhr den Hudson River entlang, der an diesem Morgen eine seltsam graugenarbte Wasseroberfläche aufwies. Ich sah mittelgroße Planstädte, die meist aufwendig um einen zentralen gusseisernen Springbrunnen herum organisiert waren und in denen ich um diese Uhrzeit keinen einzigen Menschen sehen konnte. Obwohl die Glasböden und Keramikwände kahl und sauber in der aufgehenden Morgensonne funkelten und auch die Orte allgemein keine Spur des Verfalls aufwiesen, wirkten sie an diesem Morgen verlassen. An mehreren großen Plätzen fuhren die Rolltreppen, ohne dass sich jemand auf ihnen befand.

Auf der schmalen, gut beleuchteten Zugtoilette betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Wangenknochen wirkten im Strahl der Halogenlampen noch eine Spur spitzer und magerer als sonst und auf meiner Stirn flockte die Haut in feinen Waben ab. Ich bin zu dünn, dachte ich. Die Frau im spitz nach unten gefassten, hellblauen Kleid, die mir in dem Sitz schräg gegenüber saß, kramte ein Blatt Papier aus der zerknitterten Plastiktasche, das wie eine Landkarte mit der feinen Kalligraphie einer wild auswuchernden Schrift überzogen war und in dichten Netzen die verschiedensten Landschriften skizzieren zu schien. Sie wirkten wie eine verwirrte Kartographie oder das Kalendersystem einer längst untergegangenen Zivilisation. An der Haltestelle Dobbs Ferry sah ich in einem schmalen Sichtdurchlass zwischen Parkbänken und einem im Schaukasten verrutschen, bleichen Fahrplan einen weißgestrichenen Propanbehälter, der an der Holzfassade einer winzigen viktorianischen Villa lehnte und durch ein gelbes Kabel mit dem Nachbarhaus verbunden war.

Wir hatten uns siebenunddreißig Tage nicht gesehen. Im Flugzeug setzten massive Verfremdungseffekte ein, die Maschine röhrte und ich sah nur noch die tiefschwarzen Lichter unter mir, die sich wie bedrohlich konkave Zeltdächer hoben und senkten, ich sah den großen Bogen nach Hause, der sich unter mir formte.

Am Hauptbahnhof rahmte die Zugtür sein Gesicht. Wir verharrten in einer langen, stillen, ausufernden Umarmung und fuhren dann in die Wohnung nahe Westhafen zurück. Unter unseren Fingernägeln leuchtete das Fleisch bläulich empor und zwischen unseren Handballen bildete sich in der Augustwärme eine dünne Schweißschicht, die wie eine Membran die Außen- von der Innenwelt abtrennte.

17 11 2023

Unweit der Verabredung steht das Parlament unter Blumen. Mit Versuchen erkläre ich mich, aber die Hälfte lässt sich nicht anwerfen. Ich gehe ein Stück, lege das Brot zurück ins Plakat. Es ist alles sehr gegenständlich, zu glänzendem Laub aufgehäuft an diesem Tag in einem Herbst in der Zeit. Mäntel karieren Felsen, Girlanden von Fragen schmücken die Stadt. Auch die Felder sind still, worüber Dinge aufkommen und verschwinden, ein Kunstwerk den Himmel bedrängt. Nicht ich schlief in meiner Unterschrift, als der Zettel schon dargebracht in eine der Holztruhen hätte absinken sollen. Nichts ist verdeckt. Scharen jeder einzelnen Autofiktion tragen dein Badezimmer in eine Welt, in der es auf Tierfüßen aufsetzt und du später einen Abstand gewinnst bei den unbestimmten Feierlichkeiten des Kaisers. Vorliterarisch taumele ich durch Paraden, tauche unter Medikamenten hindurch zu dir auf die große Straße. Der Ring ist kein Ring, sondern in weiten Strecken gerade.

24 11 2023

Ich erinnere mich an meinen ersten Tag im Trainingszentrum.
Nach der stundenlangen Fahrt durch einen spärlich beleuchteten Tunnel erreichten wir das Areal. Es lag in einer tropisch anmutenden, weitläufigen Talsenke. Der Wind ging allerdings scharf und trug eisige Tropfen. Aus den Hängen wuchsen reduzierte Wohnkomplexe, von denen sich einer noch im Bau befand. Von dort führten Gondeln zum Zentralbereich, wo etliche, schwarz verglaste Forschungsgebäude standen. Die oberen Etagen waren hier durch ein feines Netz von Skywalks miteinander verbunden. Ich empfand dieses ganze Szenario als ausgesprochen geschmackvoll.

Unmittelbar nach der Ankunft wies man den Neuankömmlingen Uniformen und Wesensprofile zu. Dann fanden wir uns im Großen Saal zusammen, wo die längste Nacht des Jahres simuliert wurde. Unsere Testaufgabe bestand darin, die Radioteleskope entsprechend auszulesen. Kleine, perfekt austarierte Handhelds aus stumpfem Metall. Wir visierten die vorgegebenen Koordinaten an, modellierten die Region um das Schwarze Loch Holm 15A und zeichneten die Massendaten auf. Daraufhin überprüfte die Trainerin, die ihr weißblondes Haar streng nach hinten gegelt trug, unsere Ergebnisse. Mich überkam eine unbekannte Hitze, als sie meine Daten auslas. Der karmesinrote Lichtbogen aus aufgeheiztem Gas, die rundliche, vollkommene Finsternis darin, Prognosen für Sternenbahnen und Massenverteilung. Nach ein paar flüchtig prüfenden Blicken auf meine Formeln, nickte die Trainerin, ohne eine Miene zu verziehen. Ich fühlte mich, als würde ich nur noch aus meiner Overall-Hülle bestehen, der Körper darin verdampft.
Die Trainerin ging zurück an das schmale Pult. Beim Gehen rieb der Stoff ihres sportlichen Anzugs aneinander, was kultiviert klang. Vorn bog sie eine Scheibe aus milchigem Plastik um einen Styroporball und demonstrierte, wie sich alles Beobachtbare um die gewaltige Masse wölbt. Sie sagte: Hier geht es um ein Wagnis, sie aber blicken bisher nur dahinter.

Am nächsten Tag fühlte ich mich frostig und erleichtert. Nachdem ich meine Schlafkapsel in einem der Wohnkomplexe verlassen hatte, nahm ich die Gondel zum Campus. Während der Fahrt fiel mir auf, dass die Baustelle am Hang verschwunden war. Ob dort nun ein weiterer dieser Komplexe stand, konnte ich allerdings nicht mit Sicherheit sagen.

Vor dem Großen Saal hielt ich inne und spürte die kühlen Tropfen, die in mittlerer Geschwindigkeit mein freiliegendes Gesicht trafen. Der Wind hatte nachgelassen. Es schienen sich nur noch wenige der Neuankömmlinge auf dem Gelände zu befinden.
Im Eingangsbereich las ein Mann in Schutzmontur mein Wesensprofil mit einem stabförmigen Scanner aus und ließ mich passieren. Ich nahm im Wartebereich Platz, schloss meine Augen und stellte mir eine unendliche, ereignislose Leere vor. Die Vorstellung kam so einfach und plötzlich über mich wie die Erinnerung an ein Ferienhaus, das man als Kind in den Sommerferien bewohnt hat, nicht wie eine kosmische Annahme. Darin zu verharren fühlte sich herrlich an.
Das in meinem Overall integrierte Device vibrierte. Auf dem Display am rechten Unterarm zeigte es mir den Weg zu meiner Initiation an. Ich folgte den Anweisungen, nahm den Aufzug und den Skywalk ins Nachbargebäude, passierte ein paar Flure, bis ich vor einer angelehnten Tür stand und das Device erneut vibrierte.
Im Laborraum stand mittig eine ovale Kapsel mit Monitoren, die in verschiedenen Blautönen leuchteten. Neben der Maschine saß ein Trainer zweiten Ranges. Selbst im Sitzen sah sein Anzug wahnsinnig sportlich aus. Er aktivierte blinzelnd den Scan-Modus seiner Brille und fixierte mich. Dann wies er mich an, in die Kapsel zu steigen. Darin saß ich wie in einem kalten, ergonomischen Kunstledersessel. Die Kapsel schloss sich und vollkommene Dunkelheit hüllte mich ein. Ich spürte, wie sie mir wohltat, wie sich mein Pulsschlag verlangsamte. Im Nachhinein ist es unmöglich, genauer zu erklären, was während der Initiation im Nihilautomaten mit mir passierte.
Als ich die Kapsel wieder verließ, war es bereits dunkel. Ein anderer Trainer saß im Raum und sah nicht von seinen Unterlagen auf, als ich vor ihm stand. Ich fühlte mich wie ausgewechselt und meinte, Details in meiner Umgebung wahrzunehmen, die vorher getarnt waren. Der Lack am Tisch des wachhabenden Trainers war abgeplatzt, was den Blick auf das porös wirkende Innenleben freigab. Außerdem stand ein vertrockneter Drachenbaum in der Ecke des Zimmers.

Auf dem Weg zurück zu meinem Wohnkomplex sah ich eine Gruppe Arbeiter. Sie standen um einen großen, silbernen Block herum, auf dem ein stilisierter Sternhaufen befestigt war. Sie betrachteten ihr Werk, das gerade fertig geworden zu sein schien. In schwarzen Lettern war auf dem Sockel eingraviert: Die hypothetische Zivilisation der Zukunft wird nur noch die Rotation des sie einsaugenden Schwarzen Loches als Energiequelle nutzen können. Die Nacht war still und ich versuchte, das Allegorische dieser Arbeit zu erkennen. Dann, wie auf ein geheimes Signal hin, stoben die Arbeiter auseinander, als würden ihre Partikel einander plötzlich abstoßen.
Es regnete noch immer, doch die Tropfen fielen mittlerweile behäbig. In der Gondel hinauf zu den Wohnkomplexen fühlte ich mich technisch und besetzt. Oben am Wegesrand, flackerte eine der Halogenlaternen. Daneben lag ein verschleimter Falter, der aussah, als hätte ihn etwas ausgespien. Im Wohnkomplex traf ich niemanden und den selbstverständlichen Weg zu meiner Schlafkapsel von letzter Nacht gab es nicht mehr. Verwirrt legte mich auf eine Couch in einer Nische des Foyers und verbrachte einige Stunden in mattem Dämmern.

Das Vibrieren meines Overall-Device weckte mich am nächsten Morgen. Es befahl mir, das Equipment für die Ernennung abzuholen. Ich erhob mich umständlich und steuerte meinen geräderten Körper nach draußen. Hier stand der Regen in der Luft. Ich lief durch die präzise angeordneten Tropfen und sie legten sich auf meine Haut.

Als ich das Forschungsgebäude erreichte, zu dem mich mein Device navigiert hatte, sah ich, dass der Türknauf voller Schlieren war. Ich scheute mich, ihn zu berühren und sah mich um. Eine Gruppe Trainerinnen beobachtete mich aus einem der Fenster heraus. Ich stieß die Eingangstür mit der Fußspitze auf und setzte mich in den Wartebereich. Mein Display zeigte mir an, dass ich auf Abholung warten sollte. Solang schloss ich die Augen und gab mich für den Winkel aus, der genau in diese Finsternis passt. Als wäre ich wirklich dort, ließ ich mich verschlucken.

Seltene Erden

24 03 2023

Einmal verärgerte ich den Pfarrer sehr, im Beichtstuhl, nur ein paar Tage vor der Kommunionszeremonie. Ich fragte ihn, wovon er nachts träumte. Ich fragte das ganz unschuldig, weil mich zu dieser Zeit Albträume plagten. Einer handelte von einem gehäuteten Reh, das mir zitternd im Schoß lag und auf meine Jeans urinierte. Ein anderer handelte von langwierigen bürokratischen Sitzungen in einem Konferenzraum. Nie war ich das Zentrum dieser Sitzungen, der Zweck meiner Teilnahme war unklar und als Zuhörer musste ich ewige Diskussionen über Immobilien und Zinsen über mich ergehen lassen, was damals nur Worthülsen für mich waren. Fast immer endeten die Sitzungen damit, dass die Mitglieder der unterlegenen Streitpartei weinten und dabei von der überlegenen Streitpartei mit Handykameras gefilmt wurden. Manchmal wurden ihnen auch die Gesichter mit Tränen bemalt. Diese Tränen pulsierten, überwucherten die Haut und färbten sie in tiefstes Dunkelblau, bis alle menschlichen Züge verschwunden waren. Das war mir nicht ganz geheuer, darum fragte ich den Pfarrer eben, wovon er nachts träumte, nur um sicher zu gehen, dass meine nächtlichen Visionen nicht sündig waren, sonst hätte ich sie ihm ja beichten müssen. Heute weiß ich nicht genau, warum er so gekränkt reagierte. Vielleicht, weil das Gnostische am Träumen ihn verunsicherte. Das intuitive Wissen von Tatsachen ohne klaren Ursprung ließ sich nur schwer mit dem Kreislauf von Erbschuld, Sünde, Demut, Vergebung und Erlösung vereinbaren. Für den Pfarrer gab es da Phänomene mit unabhängiger Eigenlogik, die in sein christliches Blickfeld hineinragten und störten. Wie Aphthen, die zwar nicht besonders schmerzten, die man aber auch nicht ignorieren konnte. Eine von diesen Erosionen mussten seine Träume gewesen sein, und ich wiederum war der Kobold, der sie ihm durchs Gitterfenster des Beichtstuhls hindurch einflüsterte. Er widmete mir bis zur Kommunionszeremonie keinen Blick mehr. Dabei wusste er noch nicht einmal vom Reh und den pulsierenden Tränen.

Letztes Jahr langweilte mich Dating immer mehr. Entweder meine Dates waren zu direkt und wollten gleich zur Sache kommen oder sie hatten schlichtweg nichts zu erzählen. Eine Ausnahme bildete eine Massagetherapeutin, die nach zwei Campari Soda recht beiläufig erwähnte, manchmal Sex mit einem Dämon zu haben, einem Incubus. Natürlich wurde ich hellhörig und wollte mehr wissen. Ich hoffte, dass sie nun mit ihren Fantasien auspackte, stellte mir vor, wie sie und der Sexdämon schwebten und eng ineinander verschlungen gegen die Wände knallten… vielleicht spaltete sich die Raumzeit, ein Portal wurde aufgerissen, aus dem funkelnde dunkle Materie austrat und der Incubus entführte sie in eine fremde Dimension. Stattdessen aber verstieg sich mein Date bald in die üblichen Floskeln rund um Chakren, Trance und Esoterik. Der Incubus schien nur eine Metapher für eine tiefenpsychologische Kraftfreisetzung oder so einen Schwachsinn zu sein… ein Selbstfindungstrip. Es wäre mir lieber gewesen, hätte sie mich angelogen und mir weismachen wollen, sie würde tatsächlich einen Dämon ficken. Ein echter Geist, halbtransparent über dem Erdboden schwebend, Sand und Schwefel ausstoßend, mit einem Schröpfmaul aus Licht. Das dringende Bedürfnis zu lügen hätte mir vielleicht imponiert. Eine Lüge, die unter den Fingernägeln brennt und so dreist ist, dass sie fast leuchtet, hätte sich nach etwas Echtem angefühlt… nicht wieder nur nach einem Konzept.

Vor einiger Zeit war ich auf der Afterparty einer Ausstellungseröffnung. Es waren nur Holländerinnen und US-Amerikaner anwesend, deutsche Praktikantinnen brachten Gin mit Grapefruitgeschmack. Ich soff ein bisschen und beobachtete Lichtschleier, die im langsamen Tempo die Decken emporwanderten, während ich der Künstlerin auf Nachfrage ein Kompliment machte, dass sie well mit dem room gearbeitet hätte. Vielleicht weil ich der Einzige war, der Deutsch sprach, vielleicht weil sie mich süß fand, setzte eine der Praktikantinnen sich neben mich und drückte mir irgendwelche Stories rein. Sie erzählte von ihrem Studium und ihrer Masterarbeit, in der es um die allegorische Signifikanz von Zombies im 21. Jahrhundert ging, von wegen mindless consumerism, biopolitsche Auf- und Verzehrung des menschlichen Körpers, was auch immer. Sie meinte außerdem, Zombies könnten als kapitalistische Metapher für das „automatische Subjekt“ gelesen werden, der „Spuk des Zwischen“, halb Produktionsmaschine, halb Arbeiter. Vielleicht hätte ich eine freundschaftliche Diskussion lostreten können, indem ich erwidert hätte, dass ich glaubte, Leute fänden Zombies deshalb spannend, weil sie die Zusammenhänge von Bewusstsein und Gedächtnis in Perspektive rückten, weder Mensch noch Tier waren, aber eben auch keine Chimären oder Geister und das würde doch vollkommen ausreichen, um Zombies ihre allegorische Signifikanz zu verleihen. Da ich jedoch keine Lust auf Smalltalk hatte, entgegnete ich, dass Zombies gruslig seien, einfach weil sie Gehirne fräßen, und außerdem brauche es nicht für jede popkulturelle Trope eine marxistische Lesart. Die Praktikantin blickte drein, als hätte ich aufs Übelste ihre Mutter beleidigt. Reflexhaft zuckte ihre Hand, sie hätte mir wohl am liebsten den Aschenbecher über den Kopf gezogen. Ich begriff, dass diese Person ihr ganzes Leben lang anhand ihrer Intelligenz und Kreativität beurteilt worden war, nicht anhand der Sinnhaftigkeit ihrer Handlungen. Es war ihr ein blanker Horror, mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, dieses Mal kein A for effort abzustauben und damit leben zu müssen, dass ihr selbstgemaltes Bild nicht an den Kühlschrank geheftet wurde. Ich meinerseits war verblüfft, als ich spürte, dass sie mir tatsächlich den Aschenbecher über den Schädel ziehen würde, wären wir allein und hätte sie keine Konsequenzen zu befürchten. Ich sah das in ihrem Gesicht, in dem nicht nur Pikiertheit, sondern etwas Beunruhigenderes hervorquoll. Da war eine Gekränktheit, die sich ihrer selbst nicht schämte, sondern im Gegenteil bereit war, ihre Widersacher literally zu verwunden, ohne Rücksicht auf eigenen Schaden. Ein paar Sekunden lang drohte die Situation zu kippen, bis sie spöttisch die Augenbrauen hochzog und verschwand. Eigentlich war sie mir nicht mal unsympathisch. Ich vergab ihr, gleich nachdem sie aufstand und abhaute, sie mir wahrscheinlich nicht.

31 03 2023

In der erdwissenschaftlichen Sammlung des Instituts stieß sie auf einen versteinerten Flügelschlag. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich um einen fossilen Fund aus dem Miozän, eine Art Biene, beschriftet und erfasst von einem Oswald Heer.

Dieser versah all seine Funde mit dem Appendix HEER.

Chauliodites HEER, Lytta aesculapii HEER, Chondrites targionii var. arbuscula HEER und so weiter.
Die Funde: fossile Farne, Insekten und Weichtiere, Wirbellose.

Oswald Heer verfasste 1865 eine Arbeit mit dem Titel Die Urwelt der Schweiz, wonach er die Vergangenheit der Schweiz nach dem Modell der in den Kolonien begegneten Natur entwarf. Gemäß der damaligen Mode fand auch er der Idee etwas ab, in der Übersee der eigenen vorzivilisatorischen Vergangenheit zu begegnen.

Er fertigte Illustrationen an und beschriftete diese mit Überschriften wie Steinkohlenflora der Schweiz.

Darin enthalten: Palmenwedel sowie tropenähnliche Flora, auch elefantenähnliche Tiere mit Stoßzähnen am Zürichsee. Er verlagerte in einer damals so typischen kolonialen Rückübertragung die Tropen in die Alpengegend. Seine Annahme: Auch in der hiesigen Gebirgswelt spiegle sich die Geschichte der Erde.

Die Rede war von den Bergen als Tempel der Urnatur.

Es übt daher unsere Alpenwelt nicht allein durch ihre stille Erhabenheit einen unnennbaren Zauber auf unser Gemüth aus, sondern bildet zugleich den großartigsten Tempel der Urnatur, in welchem aus allen Weltaltern die wunderbarsten Bilder aufbewahrt sind. (Oswald Heer, 1883)

Die Alpen wurden eine Schablone, mithilfe derer man die Vergangenheit imaginierte. Besondere Auswüchse dieser Forschungswut und intellektueller Konstruktion: der homo alpinus, wonach es eine gesonderte urzeitliche Sorte Mensch in den Alpen gegeben habe.

Schwachsinn im Grunde.

Die Ideen der Ur-welt, des Ur-meers, der Ur-natur fanden auch Einzug in die Imagination der europäischen Denker und Dichter, die etwas über die Natur und damit auch die Welt zu sagen mochten. Alsbald sie aber das Interesse an besagten Ur-zeiten verloren, widmeten sie sich wieder ihren Geliebten.

–

Was Alexander Humboldt im Jahr 1823 Geognostischer Versuch über die Lagerung der Gebirgsarten in beiden Erdhälften nannte, hieße mehr als ein Jahrhundert später bei Hubert Fichte die Verschwulung der Welt (1973).

Was diese Welt-entwürfe unterscheiden würde: die Trennung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung. Humboldt kannte diese Differenzierung noch nicht. Fichte würde versuchen, sie wieder zu vereinen.

Novalis hatte in den Notizen seiner Lehrlinge zu Sais den Begriff der Geognostik erwähnt und geschrieben, der geognostische Streit der Volkanisten und Neptunisten sei der eigentliche Streit. Ihn beschäftigte die Frage, ob Gesteine aus einer (vulkanischen) Eruption entstanden oder aus einem sogenannten Ur-meer als Sedimente hervorgegangen waren.

Im Gegensatz zu Humboldt und Fichte würde Novalis das Meer nie überqueren, sich stattdessen bestimmten Kohlestätten in Sachsen zuwenden.

Sein Fuß bliebe an Land.

–

Als handle es sich also um Welt-zugriffe.

Ihr war, als seien die Notate, die vor ihr lagen, schriftliche Beweisführungen, als seien sie salopp gesagt Unabhängigkeitserklärungen, in etwa: Loslösungen von der Geliebten.

Entsehnungen vielleicht.

Steinkohle, Insekten, hübsch.

–

Oswald Heer war ein Fleißiger, er katalogisierte und beschriftete unzählige Insekten eines Zürcher Handelskaufmanns, der mit Kolonialwaren zu Reichtum gelangte und, wie sich rausstellte, ein besonders leidenschaftlicher Sammler war.

Heer beschriftete viele Insekten mit Bleistift, ein Ärgernis für spätere Archivarinnen.

Ähnliche Sache im Übrigen auch mit Vladimir Nabokov und seinen Schmetterlingen.

So ordnungsliebend, diese Männer, überaus rührend auch deren Hang zu Aktivitäten an der Frischluft.

Also, Oswald Heer war Brieffreund von Charles Darwin, würde sich aber mit ihm in so manch Theorien nicht einig werden. Heer hielt nichts von Darwins Idee der natürlichen Auslese, glaubte eher, die Umformung der Wesen gestalte ein Schöpfer.

Heer vermachte seine Fossilien den damals neu gegründeten wissenschaftlichen Instituten und legte damit den Grundstein (wenn man die Metapher übernehmen möchte) für spätere geologische oder paläontologische Beschäftigungen.

Archive, Kataloge und so fort.

Die Heer-Fossilien waren heute aufwendig hergeleitete Digitalisate, abrufbar im Browser.

–

Auf einer Hochebene im Berner Oberland erinnerte sie sich daran, wie sie in Florenz ein Buch gekauft hatte, in dem die Autorin von einer bestimmten Weite des amerikanischen Midwest schrieb. Eine Weite, die sich von derjenigen, die sie aus Kanada kannte, unterschied und die sie mit einem Gesicht hinterließ, so schrieb sie, das ihr vor Wind und Kälte wie zerschnitten schien.

Ähnlich erging es auch ihr heute.

Wenn auch der Schauplatz ein ganz anderer war.

Ungleich profaner.

Anders als Mary Ruefle führte sie keine Listen über ihr Weinen, führte keinen Cryalog, sondern übersetzte aus dem Bosnischen ins Deutsche.

Sie sah hinaus aufs Meer, es windete.

Auf einer Fähre sah sie sich eines Morgens ein paar Texte ins Deutsche übersetzen. Sie schrieb in Gedanken das Vorwort und den ersten Satz. Das erwählte Gegenüber werde gefaltet, gestoßen oder verräumt und zwar im Mercedes oder Maserati. Sie hatte eine Datei mit dem Namen „diplomatische Dienstleistungen“ eröffnet, die leer bleiben würde.

Auf dieser Fähre, die in Split abfuhr, fand ein russischer Mann Gefallen an drei kroatischen Schülerinnen (I like all of you), um sich später um drei Uhr morgens an der Schiffbar mit ihnen zu streiten, die ihm in gebrochenem Englisch zu erklären versuchen, was Grenze hieß (Granica, Carina, Border). Sie kämen bald in Italien an.

–

Funde:

Neptunisten: gut gepuderte Herren.

Hubert Fichte derweil mit seiner Cola am Platz der Gehenkten.

–

Als sie in der Passagierloge aufwachte, fror sie. Später an Deck stand sie in der Sonne, am Ufer zogen Kirchen am noch dunkeln Hintergrund vorbei. Im Bistro schüttete sie kurz nach sechs Uhr etwas umständlich Kaffee in einen Becher. Es sei noch sehr früh, sagte man ihr, sie solle ruhig ein wenig schlafen. Der Wind wehte ihr später auf dem Deck die Ohren taub.

Blau, sie konnte es nicht mehr sehen.

Militärisch-industrielle Hafenkomplexe, Bilder von Kränen und Containern, rauchende, fluchende Schüler.

Die Reise sei sie interessehalber eigentlich nur wegen der Brijuni-Inseln, einem der kroatischen Nationalpärke, angetreten, erzählte sie Egzon, sie habe die Zebras sehen wollen. Sie beschäftige sich seit geraumer Zeit mit Nationalpärken.

Nachts erzählte Egzon, Chef de Service, von seiner Frau in Albanien und seinem abgebrochenen Informatikstudium und wie er mit ihr sprach, ihr von seiner nächtlichen Lohnarbeit auf dieser Fähre erzählte, schien ihr, als wiederhole sich das Gespräch mit ihr um ein weiteres Mal.

Sie führte ein Album mit dem Titel „Übersetzungen“ und listete die Lieder der Balkan Top 100 Charts nach eigenem Belieben.

Etwa:

Als würde man wie von Benzin begossen brennen (Jala Brat, Buba Corelli, 2021).

Als ginge die Welt auch ohne sie beide weiter (Edita, 2023).

Sie sah die kroatischen Schülerinnen auf dem Deck rauchen.

–

In den Uffizien in Florenz stand sie vor Botticellis Venus und bestellte später Muscheln, die sie im Hotelzimmer erbrechen würde.

Hervorgetreten aus einem Ur-meer wären keine Gesteine, keine geläuterte Aphrodite, nur etwas, was immer weiter zerfiele, sei es Sand. Was Venus aus dem Meer an Land wehte, war nicht Wind, sondern eine Fähre mit dem Namen San Pawl. Ihr war, als sei auch Venus eine Wirbellose, ein Gegenstand unzähliger Betrachtung und Vermessung.

Of course I am prey, schrieb Joanna Pocock in Missoula.

Während der Arbeit an diesem Text, der den Namen Surrender tragen würde, vollzog sie eine Bewegung, welcher vorausging, an einen Ort einzukehren, den man zuvor noch nie gesehen hatte.

Es hieß:

I studied Missoula’s physical features as if I were looking at a face that reminded me of someone I once knew who had hurt me. (Joanna Pocock, 2019)

Aus den Seiten dieses Buches fiel heute ein Flyer des Museo di Storia Naturale Firenze in die Gänge der erdwissenschaftlichen Sammlung zu Boden.

Darauf ein weiterer Fund: WELCOME TO FOSSILWORKS!

[...]

07 04 2023

Jemand hat mich auf eine Holzbank gesetzt. Links neben mir wächst ein krummer Baum, dessen Früchte rund sind und filzig. Sie haben eine gezähnte Krone, die vielmehr an die Klappfalle einer Karnivore erinnert als an ein harmloses Obst, zwischen Feige und Birne. Ich habe erst hier bemerkt, dass Bäume Ausdruck haben. Wie im Spätherbst ihre nackten Zweige gestikulieren, vom blättrigen Schutz entblößt, mir ihre scheinbar schmerzenden Glieder offenbaren. Bäume bluten auf eine dem Menschen unähnliche Weise, in Dantes Göttlicher Komödie nehmen Selbstmörder ihre Gestalt an. Im siebten Kreis der Hölle sehe ich, wie eine Harpyie ihnen etwas in den Mund legt: Menschen waren wir; jetzt sind wir Gestrüpp.

Rechts von mir steht mein weiß bestrichenes Häuschen. Über der Stadtmauer biegt es sich in eine Brücke, gymnastisch, Sockel und Schwelle sind zurückgewölbt, die Eckstreben stehen am Boden. In dieser Unterführung liegen Zigarettenstummel, liegen abgetragene Masken. Das Häuschen steht am Rand der Altstadt.

Es ist still hier. Alles, was zwei Straßen weiter Geräusch ist, die Kaffeetassen, das Gelächter, das Kindergeschrei beim Wasserspiel, das Wasserspiel, ich, ist hier stumm. Auf diesem Platz stand einst ein mittelalterliches Bad, nun das Häuschen, in dem ich wohne.

Ich spüre, wie ich vom Anblick gesättigt bin, wie die tägliche Routine ein und derselben Sicht meine Rezeptoren zur Genüge angefüllt hat, wie Signale an mein Gehirn gesendet wurden, wie ich voll von Nährstoff bin. Hertha Müller sagt: Man muss erst hungern, um seine Sprache zu finden; Hunger wird Motiv und formales Prinzip der Literatur.

Jemand hat mich in einen Garten gesetzt. Hier draußen kann man mich sehen. Vor den metallenen Streben des Zauns steht ein älterer Herr. Seine Haare sind schwarz, die Schläfen grau meliert. Durch eine eckige Brille schauen kleine Augen gütig drein. Es habe vor mir, erzählt er, in diesem Haus, ein Mädchen gewohnt, meine Vorgängerin. Sie hatte dunkles Haar, wie ich, und große Augen. Sie habe ihm von ihren Plänen erzählt. Er meint, wie ich, saß das Mädchen meistens auf der Holzbank, nur ein Stück weiter links. Sie habe einen Auftrag gehabt und ihrer Familiengeschichte nachgespürt. Ihr Urgroßvater sei als sowjetischer Soldat in Deutschland gefangen gewesen, in einem KZ-Außenlager. Es gäbe eine Fotografie von ihm, in Häftlingskleidung, mit blauem Dreieck. Unten auf dem Bild sei eine Handschrift zu erkennen gewesen. Sein Name, Geburtsjahr, und darunter: Konzentrationslager Fürsten, dort sei die Fotografie abgerissen. Sie sei auf der Suche nach ihm, nach seinem Namen, nach Fürsten in Lagern, Kriegsgräberstätten und Archiven. Ihre Familie wusste nur, dass er es wohl geschafft hatte, in die USA zu gelangen. Dass er dort gelebt habe, unerreichbar durch den Eisernen Vorhang. Sie habe es naheliegend gefunden, dass seine Gefangenschaft von Amerikanern beendet wurde. Irgendwo im Süden also. Darum sei sie hier gewesen.

Mir ist kalt. Hier draußen regt sich ein Wind, rau, in dieselbe Richtung, in die ich schaue. Er treibt das Laub vor meinen Füßen zur Stadtmitte, Sediment einer Jahreszeit, ein einfacher Kompagnon. Ich folge ihm, gehe über eine Ecke aus dem Garten hinaus. Dort heben sich die gelben Säcke wie Luftballons Richtung Himmel, jemand hat Geburtstag. Erst hatte ich gezögert, als der Wind mich an die Hand nahm, ich wollte sitzen bleiben.

Auf der einen Seite des Platzes werden Häuser saniert, auf der anderen fällt der Putz ab, und in der Kneipe im Erdgeschoss trinkt schon lange niemand mehr, es haben alle. Ich richte meinen Blick wieder auf die Straße, und der Wind dreht sich zu mir um. Vorn kann ich schon die weitläufige Fläche der Hauptstraße sehen.

Ich spüre, dass mein Körper nur ungenügend versorgt ist, ich war nicht oft hier, bald werden mir Botschaften gesendet. Die Hauptstraße ist rechteckig in die Altstadt gesetzt, und die Häuser darauf mühsam in Reih und Glied, strammstehende Soldaten in Pastell, leuchtendes Blau, zartes Mint, Rosa, Vanille, Flieder, alles ist Bonbon, ist Zuckerwatte, Zinnsoldat, hier werden Kinder geboren, hier wird freundlich gelächelt. Ich stehe am unteren Rand der Straße, und halte mir die Augen mit beiden Händen, noch knurrt in mir nichts, noch kontrahiert nichts, keine Leerstände zu melden, kein Appetit.

Auf der Holzbank vor dem Rathaus bin ich eingeschlafen. Ein bisschen einschlafen, den Körper senken, die Temperatur, alles fließt jetzt langsamer. Als ich aufwache, hat mich jemand an ein Gleis gestellt, wie ein stehengelassenes Gepäck, das nicht weiß, wann es abgeholt wird.

Mir reicht oftmals die Erinnerung. Ich suche in meinen Ablagen, die vergangenen Versionen, Reserven, die sich im Papierkorb stapeln, und die ich linksliegenlassen habe, wie den Aschenbecher auf der Holzbank im Garten, wie das Laub neben meinen Füßen.

Jemand hat mich an ein Gleis gestellt, jetzt bin ich am Bahnhof. Ich höre, dass es in mir knurrt, und bevor es zu laut wird, springe ich in eine Pfütze. Dort bricht sich das Geräusch, wie in den Straßen vor dem Garten. Ich streite mit dem Wasser um Luft.

Ein Blick in Richtung Himmel. Keiner regt sich, bloß Sonne, schimmernd, wie an jedem Morgen, obwohl es Abend ist. Ich stelle mir meine Vorfahren als brennende Bilder vor, jemand hat sie in den Kamin geworfen. Der Mensch, der mich ans Gleis gestellt hat.

Ich wende meinen Blick ab, um nicht auszuhungern, setzt man an, kann man die Hebungen beobachten, die Augen sind groß, die Ohren, der Hungernde hat keine Zeit.

Wir wissen von dem jungen Mann, dass er zwischen 1914 und 1915 geboren wurde, irgendwo in Kleinasien, Westarmenien, der heutigen Osttürkei. Er war einer der vielen Waisenkinder, ein Säugling ohne Namen, ohne die Möglichkeit, sich an die Stimmen seiner Eltern zu erinnern, wie sie ihn aussprechen. Er überlebte in den Armen einer europäischen Missionarin, zarte Dänin, blonder Zopf, zurückhaltende Handgriffe, die ihn als Mädchen ausgab. Mädchen verüben keine Blutrache, der Befehl, die Neugeborenen zu töten, galt für sie darum weniger streng. Wir wissen auch, dass er eine Frau hatte, und einen Sohn. Sein voller Name ist in zehn verschiedenen Schreibweisen möglich, in vier Sprachen, die er benutzt haben könnte.

Der Weg, den ich nehme, die Steine, auf die meine Füße aufschlagen, wirken abgetragen, ich stelle sie mir zurückgelassen vor, wie die Zigarettenstummel in der Unterführung, wie Risse auf der Haut meiner Erinnerung. Das platte Tönen hindert mich am Fallen, ich stelle mir vor, wie es wäre, mich im Kamin zu verbrennen, wie ein altes Bild, das jemand hineingeworfen hat. In den Rissen meiner Erinnerung eine Bestimmung gefunden: Ich, als aphasisches Findelkind, aufgewachsen unter Wölfen, das der Straße mit einem Mal entschwunden ist.

Ich folge dem abschüssigen Weg, der mich den Boden mal aufatmen, mal abatmen lässt. Oben ist schimmernde Sonne und Sicht. Hier bin ich Vorüberziehende, hier gehe ich auf den Wunden der Stolpersteine, an scheinbar zerbrechlich wandernden Orten, umher. Unten bin ich eingewandert, gescheitert.

Ich setze einen Riss in die Haut meiner Erinnerung. Das hungernde Mädchen, dessen Körper mir mit der Straße entschwunden ist, objet trouvé einer deutschen Kleinstadt; der künstlerische Akt liegt in der Auslese, liegt im Fund des künstlerischen Potenzials.

Manchmal verlasse ich den Bordstein, ziehe mich zur Mitte der Straße, und die sich ändernde Perspektive lässt meine Erinnerungen überkochen, lässt die benötigten Reserven atmen, die sich aufopfernden Muskelmassen, das körpereigene Protein und anderes Gewebe. Meine Sicht lässt sich grundsätzlich nicht unterdrücken, aber dämpfen kann ich sie, zügeln.

Der Mensch, der mich ans Gleis gestellt hat, hat Risse unter den Augen. Sie werden länger, als ich aufwache. Nach kürzester Zeit werden Radikale gebildet. Sie greifen die Haut an, wir verlieren Elastizität, und folgen der Schwerkraft nach unten.

Auf dem Bild ist ein junger Mann von zwanzig oder dreißig Jahren. Er schaut in die Kamera, mit Augen, den Mund zu etwas geformt, das kein Lächeln ist. Sein Kopf ist leicht nach rechts geneigt, auf dieser Gesichtshälfte ist Schatten. Das Haar ist dicht, ordentlich nach hinten gekämmt. Er wirkt intelligent und zugleich auf eine Art naiv, er muss gerne gewartet haben. Sein Blick scheint nicht fernzugehen, dennoch sehe ich Nachdenklichkeit in den Augen, eine Trauer ohne Schmerz. Ich stelle ihn mir als Träumer vor, als hätte er nichts erlebt, was er bedauern müsste.

Irgendwann setzt die Straße einen Riss in die Haut meiner Erinnerung, und ich sehe, dass sie um mich begrenzt ist, dicht genug, dass ich den Übergang von Wirklichkeit und Halluzination nicht mehr sehen kann, in dem plötzlichen Drang nach Bildsuche, Nahrungsaufnahme. In diesen Rissen eine weitere Bestimmung gefunden: Ich, fortan als Hungerkünstlerin, Schaustellerin, mein zurückgelassener Blick an einem trüben Abend.

Es ist offensichtlich, dass das Bild kein Original ist, bloß die Fotografie einer Fotografie, kurz unterhalb des Kragens abgeschnitten, der gestreift ist, vielleicht schwarzweiß, oder blau. Über das Bild gehen Risse, horizontal, als sei es oft gefaltet worden, geöffnet, um es anzusehen, geschlossen, um es nicht sehen zu müssen. Von einem Sohn vielleicht, fern, und diesseits des Eisernen Vorhangs. Am unteren Rand sind drei Zeilen zu erkennen. Ein Name, eine Jahreszahl, ein Ort. Dort ist es abgeschnitten. Als hätte der junge Mann es so gewollt. Zu wenig, um jemanden zu finden, aber genug, um sich auf die Suche zu machen.

Unter meinen Augen sind Risse. Vorhin hing dort noch ein Bild. Es ist mir heruntergefallen, als mich jemand an das Gleis stellte, gegen den einfahrenden Zug. Auf dem Bild: ein aphasisches Findelkind, aufgewachsen unter Wölfen, mit Augen, und den Mund zu etwas geformt, das kein Lächeln ist. Jetzt sitzt es auf den Gleisen, und würde die Stadt verlassen.

Je länger ich ihm in die Augen sehe, desto unwahrscheinlicher wirkt es, dass er gelebt haben soll. Dass mein Urgroßvater dieses Leben gelebt haben soll, von dem wir wissen: Als Waise im Genozid, als Gefangener im Konzentrationslager. Zeuge der großen Katastrophen, doch immer gerettet.
Die Sonne entfernt sich, genauso der Abend. Ich stehe auf der Hauptstraße, schaue in Richtung oben, und sehe die brennenden Bilder meiner Vorfahren, die jemand, ich, in den Kamin geworfen hat.

14 04 2023

Du bestehst aus drei Teilen: Einem strahlenden, einem sich verflüchtigenden und einem fleischlichen (möglicherweise). You are a VERY radiant star. Deine Arbeit besteht aus drei Teilen: der Flaschenpost, versiegelt hinter unerratbaren URLs, auf dass sie einer (oder besser noch, keiner) entdeckt, dem öffentlichen und dem eigentlichen Teil. Du denkst, dass einer authentischer sei als der andere – ich sage, dass sie Ablenkung von der Ablenkung sind, sein könnten. Die Menschen lieben deinen öffentlichen Teil, sie lieben die kleinen Figuren, sagst du, und zeigst mit zwei Händen an, wie klein sie sind, deine öffentlichen Figuren. Ich denke daran, wie ich vielleicht irgendwann eine deiner enigmatischen URLs zufällig eintippe und auf deine geheimen Arbeiten stoße, die nicht für mein Auge und doch ganz für mich geschaffen sind. Wie du fleischlich.

*

Ich habe zu meiner eigenen Arbeit ein insecure attachment, erkläre ich dir, und schäme mich kurzzeitig dafür; aber es stimmt. Ich bin zu ihr wie zu einer unzuverlässigen Mutter, besitzergreifend, eifersüchtig, bitter, verlustängstlich. Ich denke, dass sie mich ausmacht (was sollte es auch sonst sein? Meine direkte Art?) und fürchte ständig, dass sie mir entgleitet. Ich habe sie verdinglicht und fetischisiert. Je äußerlicher sie bleiben muss, desto zwanghafter klammere ich mich an ihr fest. Du hast drei Arten deiner Arbeit; für dich gibt es keine Trennung, es könnten auch vier, elf, dreißig sein.

*

Obwohl ich gereift bin seit unserem letzten Treffen, gewachsen, wie man sagen könnte, bestimmst du danach erneut meine Tagträume, drängst dich in sie hinein. Voll neugewonnener Vernunft zähle ich die Möglichkeiten auf: du bist dir unsicher, aber ich spiele nur eine periphere Rolle (wahrscheinlich), du bist distanziert und hast eine Art Respekt vor mir (wahrscheinlich und nicht unschmerzhaft), du würdest mich näher heranlassen, aber weißt nicht, dass ich es auch wollte (unwahrscheinlich und dumm). Du bist auch gereift, denke ich, du bist ruhiger. Deine Augen leuchten wie damals, dem kann ich nicht lange standhalten. Du trägst die gleichen Haare, ich auch (gerader Pony, klarer Scheitel). Vielleicht ist es das: ein Dialog unserer Frisuren, die uns Kohärenz garantieren.

*

Während die Kühle die einscheibigen Fenster hochwandert, sich als Beschlag manifestiert, während mein Handrücken weiter austrocknet und sich in seine Fältchen verzieht, die ich erkennen kann, wenn ich mit meinen Augen ganz nah rangehe, während auch meine Sprache sich zurückzieht und nur Reste eines ehemalig reichen Vokabulars verbleiben, zwischen denen ich umherirre, unfähig, sie bedeutsam zu rearrangieren, bestehe ich aus zwei Teilen: einer, der weiter zu dir hinwill und einer, der sich entfernt.

Bindung

Neue literarische Texte

info[at]bindung.co
instagram.com/bind__ung

Herausgeber

Felix Plate
Konzept, Design und Development

Len Sander
Konzept und Redaktion

Leipzig/Berlin, 2024

Danke

Sascha Bente
Für die Schrift „Material“

Kirby CMS
Für die Lizenz

Autofriktion

03 01 2025

Ich bin bereit, ein Geheimnis zu verraten. Jetzt ist wieder Morgen. Was ich schreibe, hat keinen Anfang. Es ist reine Fortführung. Das ist nicht mein Geheimnis.
Es gibt dieses Saying, dass wir uns Fiktionen ausdenken, um andere Leben zu leben, um alles Andere zu erfahren. Das, was wir nicht sind. Das ist es nicht, es ist das Gegenteil. Fiktionen erlauben uns, so auftauchen zu lassen, wie wir wirklich sind.

Jeden Tag trage ich eine Maske. Ich werde wach und habe sie schon auf. Ich berühre das Holz, um zu wissen, wer ich bin. Ich wechsle sie, wenn ich English Breakfast koche und wechsle sie, wenn ich Assam koche, und wechsle sie, wenn die Sonne hinter der eisblauen Wolke verschwindet, und wechsle sie, wenn ich ein leeres Dokument öffne und „LARVEN-SATZ“ schreibe. Jetzt trage ich die Maske des Verräters.

Es ist ein geheimnisvoller, seltsamer Prozess: Jede neue Maske zwingt mich, die letzte, gerade abgelegte zu vergessen. Man muss sehr gut hinsehen, um den Wechsel der Masken mitzubekommen. Man muss sich sehr gut erinnern können, um sich zu erinnern, wer man eben noch gewesen ist. Dafür haben wir den Spiegel. Nicht, um uns zu erkennen, sondern um zu sehen, dass da nichts ist. Unter der Maske bin ich reines Masken-Programm, nichts von Wert, nichts.

Es gibt eine Stelle im Alten Testament, im Jesaja-Buch. Dort steht: „Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so daß man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden.“
Wenn die Arbeit an der neuen Welt abgeschlossen sein wird, wir die gerechte Bestrafung für unsere Verbrechen erfahren haben, die Prozesse der Heilung und des Wiederaufbaus geschehen sind, werden unsere Erinnerungen an die alte Welt ausgelöscht sein. Vergessen ist milde.

Vielleicht habe ich falsch gehandelt, indem ich dieses Geheimnis preisgegeben habe und behauptet habe, man könne spüren, wenn wir uns erneuern.

10 01 2025

Alle reden nur über Sex im Olympischen Dorf. Aber niemand redet über Sex im Paralympischen Dorf. Die ficken doch auch. – So ein Gespräch überhörte ich in der 8 nach Erlenstegen. Das ist so eine schöne Nürnberger Straßenbahn.
Ich frage mich ob die auch Kondome ausliegen haben, ob die auch Anti-Sex-Betten haben und sowas. Ich denke bestimmt. – Nürnberg ist so eine Stadt wo man sich eigentlich immer wohlfühlt, sogar jetzt wo es so unmenschlich stark regnet. Wenn man aus der Straßenbahn rausschaut dann sieht man diesen bestialischen Regen, auf der Straße fließt eine ein Zentimeter dicke Wasserschicht. Willst du wirklich jetzt aussteigen? – Das fragt wieder die mit dem Sex im Paralympischen Dorf – Du kannst auch noch bis zu mir fahren, vielleicht hört es dann auf zu regnen.
Es ist sehr unwahrscheinlich dass es bald aufhört, denke ich mir, Nürnberg wird heute wahrscheinlich mehr oder weniger überflutet. Wir können froh sein, wenn wir nicht nach Hause schwimmen müssen. Am Anfang der Bahnfahrt waren die Laternen nicht mal an, aber jetzt leuchten sie und der Himmel wird immer dunkler.
Ja, ich glaub ich fahr bis zu dir. Ich kann jetzt nicht aufstehen. – Wahrscheinlich sind das zwei Studentinnen die sich aus der Uni kennen und jetzt ein unverfängliches Gespräch in der Straßenbahn führen. Woher hätten sie wissen sollen, dass die Stadt Nürnberg heute Nacht von allen Sündern reingewaschen wird. Woher hätten sie wissen sollen, dass ein rechtschaffener, tosender Strom alle Sündigen aus der Stadt rausspült und sie irgendwo liegen lässt. Das hätten sie nicht wissen können. Es hätte einen Verrückten oder eine Verrückte geben sollen im Rosenaupark der oder die das vorhersagt. Aber die sind auch nicht mehr da.
Stell dir mal vor so eine Orgie im Paralympischen Dorf. Die schrauben so ihre Gliedmaßen ab... Oh mein Gott jetzt shhht. Hör jetzt auf. – Eine der beiden macht sich mehr Sorgen wegen dem Sturm als die andere. Es riecht aber sehr gut in der Bahn, nach Regen. Und es ist ja auch ziemlich warm. Es blitzt und donnert nicht mal. Vielleicht ist es auch gar nicht so schlimm. Vielleicht können die Sündigen doch noch bleiben. Dann hält die Straßenbahn an.
„Die Fahrt muss wetterbedingt unterbrochen werden. Wir warten auf Anweisungen von der Zentrale. Falls sie aussteigen wollen, die Türen sind freigegeben. Ich würde allerdings davon abraten.“
So und jetzt stellt sich jedem ehrlichen Menschen die Frage, draußen davongetragen werden und sterben oder drin bleiben und glanzlos verhungern. Ich stehe natürlich auf, gehe zur Tür und verlasse die Bahn. Ich habe keinen Regenschirm, weil ich nicht an sowas glaube und laufe durch den strömenden Regen bis zu einer Straße, die durch den Überhang der Häuser teilweise überdacht ist. Es ist nicht so weit bis nach Hause und ich kann auf weitere Ausführungen zu paralympischem Geschlechtsverkehr verzichten.
Ich bin schon bald komplett durchnässt, meine Haare sind klitschnass, das T-Shirt, die Schuhe natürlich, aber es ist nicht schlecht. Ich erinnere mich daran wie ich beim Hockeytraining als Kind absichtlich in Pfützen getreten bin um krank zu werden und nicht zur Schule zu müssen, natürlich klappte es damals nicht.
Beim Überqueren von Straßenbahnschienen trete ich in ein Loch. Es ist nicht wirklich ein Loch, sondern eher eine Grube, die aber durch das Wasser komplett verdeckt ist. Das Loch ist nur etwa vierzig Zentimeter tief, aber ich trete rein, falle nach vorne und stoße sehr schmerzvoll meinen Ellenbogen. Ich trete wieder raus und schaue mir den Ellenbogen an. Es blutet ziemlich stark, deswegen ziehe ich mein T-Shirt aus und umwickel ihn damit. So laufe ich oberkörperfrei, in strömendem Regen, mit einem blutenden, von einem T-Shirt umwickelten Arm zu meiner Wohnung in Erlenstegen. Ich höre keine Autos mehr, keine Menschen, keine Straßenbahnen, alles ist übertönt vom Regen. Es riecht nach Wasser, ich schmecke das Wasser, es blubbert in meinen Schuhen, es verdeckt meine Augen und läuft in Strömen meinen Körper runter.
Dann bleibe ich stehen. Ich bin die letzten 5 Minuten in die falsche Richtung gelaufen. Ich erkenne die Haltestelle, hier bin ich vorbeigefahren. Ich setze mich auf den Boden und lehne mich an eine Hauswand. Trag mich hinfort rechtschaffene Flut, ich kann nicht mehr. Ich schließe meine Augen in der festen Absicht sie ein paar Minuten später zu öffnen und in die richtige Richtung zu gehen. Das Wasser an meinem Körper wird langsam kälter.
Als ich die Augen wieder öffne steht vor mir eine Frau mit einem extrem vollgepackten Einkaufswagen, der Wagen ist zur Straße ausgerichtet, aber ihr Kopf ist in meine Richtung gedreht. Sie guckt mich an, ich gucke sie an.
Warum haben sie uns nicht gewarnt, dass eine Flut kommt? – Frage ich. Aber die Frau guckt mich nur an. Ich liebe obdachlose Menschen – fahre ich fort – ich denke sie haben eine sehr wichtige Funktion in der Gesellschaft. Aber sie müssen uns doch warnen. Sie müssen uns sagen wenn eine Flut kommt, dafür bin ich gern bereit zu spenden. Ich gucke nach rechts zu meinem Arm und sehe dass mein T-Shirt relativ rot ist.
Die Frau dreht ihren Wagen zu mir und schiebt ihn bis er neben mir gegen die Wand fährt. Sie beugt sich zu mir runter und sagt etwas Unverständliches. Ich verstehe Sie nicht – sage ich – es tut mir leid. Sie guckt in ihren Wagen und durchwühlt die Kartons und Tüten. Sie holt eine Tüte raus und wirft sie mir hin. Dann nimmt sie den Wagen, fährt rückwärts raus, dreht sich um und läuft weg. In der Tüte ist irgendein weicher Stoff den ich nicht zuordnen kann. Ich stehe auf aber mir wird so extrem schwindlig, dass ich mich wieder setzen muss. Dann lege ich mich hin und lege meinen Kopf auf die Tüte.

Ich hätte die Wunde nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen. Wahrscheinlich hab ich jetzt so viel Blut verloren, dass ich nicht mehr aufstehen kann. Und wenn mich der Krankenwagen findet, dann werden sie sehen, der Ellenbogen ist entzündet. Ich habe eine Blutvergiftung. Im Krankenhaus werden sie ihn amputieren müssen. Dann werde ich wieder aufwachen und irgendwann werden mich meine Freunde ohne Unterarm sehen. Sie werden mich aufmuntern und sich irgendwann daran gewöhnen, genau wie ich. Ich werde in die Reha gehen und dort Gefallen an den Übungen finden. Ich werde immer öfter Sport machen und mein Gefühl der Unzulänglichkeit durch hartes Training kompensieren. Dann werde ich einem Verein beitreten, zum Beispiel in Volleyball, ich werde trainieren und trainieren und trainieren. Irgendwann komme ich in die Bundesliga und irgendwann fahre ich zu den Paralympics. Dann bin ich im Paralympischen Dorf, teile mir zu zweit mit einem anderen Athleten ein Zimmer, schaue aus dem Fenster auf die Bungalows in Hanoi. Und auf dem Weg durch das Dorf sehe ich diese eine Athletin im Rollstuhl. Sie ist im Frauenteam der belgischen Rollstuhlbasketballerinnen. Nach den Wettkämpfen sehe ich sie wieder auf der Party im Paralympischen Dorf. Wir unterhalten uns und gehen irgendwann zusammen auf ihr Zimmer. Ich hebe sie mit meinem Arm und meiner Prothese aus ihrem Rollstuhl und lege sie auf das Bett. Wir schlafen miteinander, obwohl das Anti-Sex-Bett alles tut um uns daran zu hindern.
Ich mache die Augen auf und sehe die Flutwelle die mich aus der Stadt tragen wird. Also bin ich doch ein Sünder.

17 01 2025

„Als sie mich zum Chef gebracht haben, haben sie mir einen Sack über den Kopf gezogen und mich dreißig, vierzig Minuten im Kofferraum herumgefahren. Ich dachte, die bringen mich um. Die haben mich extra lange durchgeschüttelt, damit ich die Orientierung verliere. Als mir dann der Sack vom Kopf gezogen wurde, hielten sie mir ein Messer unters Kinn. So.“

Seine Augen waren geweitet, die Ader an seiner Stirn pulsierte. Wir waren am Tag nach dem Picknick vom Firmengelände hinunter zum Fluss gelaufen, nun spiegelten sich die Lichter im Wasser unter uns. Unser gestriges Gespräch hatte er, sobald wir uns über den Weg liefen, übergangslos wieder aufgenommen, und ich hatte ihm vorgeschlagen, einen Spaziergang zu machen, um nicht von den Kollegen belauscht zu werden.

„Später musste ich Leuten mit einem Korkenzieher drohen.“ Er hackte symbolisch auf seinen Oberschenkel ein, und fügte verzweifelt hinzu: „Sie haben mich gezwungen.“

Dann zeigte er mir die Narben von den Schüssen. An der Schulter und am Arm. Verstohlen schob er seinen Hemdsärmel beiseite. Er ermutigte mich, die Stellen zu berühren. Ich blickte mich um, die Flusspromenade war leer, und streckte die Hand aus. Steinhart. Zuerst dachte ich, die Kugeln steckten noch im Fleisch, aber nein, das war vernarbtes Gewebe, fest wie Knorpel.

„Diese hier ist aus dem Knast.“ Er zeigte auf seine linke Schläfe, drehte sich ins Licht einer Laterne, damit ich es sehen konnte. Der Schnitt war mir schon früher aufgefallen. „Einer hat ‘ne Flasche genommen und den unteren Teil zerschlagen. Mit dem abgebrochenen Ende hat er mir im Gesicht rumgefuchtelt. Ich hab‘ geblutet wie ein Schwein.“

Irgendwann begann er still neben mir zu weinen. Wir blieben noch eine Weile am Flussufer sitzen. Sein Gesicht war an meiner Schulter verborgen, und er schluchzte und wimmerte, offenbar gepeinigt von der Erinnerung an seine Gräueltaten, bis mein Pullover feucht von seinen Tränen war. Er hatte sich mir geöffnet, und aus der Öffnung dampfte sein Inneres hervor.

24 01 2025

Aus den Schubladen der Mutter fällt:

• der leblose Körper einer Biene, an deren Hinterteil Pollen zu erahnen sind;
• mehrere Slips aus schwarzer, weißer oder gemusterter Baumwolle von Aldi und Tchibo, in den Größen M, L, XL, die neben spröden Gummibändern und losen Fäden weitere Gebrauchsspuren aufweisen;
• fünf neuwertige, identische Baumwollunterhosen in Weiß, in der Größe S;
• eine handgezogene, klumpige Kerze in hellem Rot;
• ein geschärftes Klappmesser mit Perlmuttgriff, in den zwei Fische eingraviert sind;
• in einem weißen Organzasäckchen Muscheln in verschiedenen Farben und Größen, sowie zwei Pistazienschalen;
• eine zerkratzte Packung tic tac, fresh orange, noch halbvoll;
• ein Sudoku-Block aus Recyclingpapier, dessen erste Rätsel in den jeweiligen Schwierigkeitsstufen mit Bleistift ausgefüllt wurden, zwischen den Seiten einige Sandkörner;
• ein Bleistift, dessen Radiergummi hart geworden ist, so dass er die Schrift nicht entfernen kann, ohne eine deutliche Spur des Fehlers zu hinterlassen;
• mehrere Gold- und Silberringe der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter, in verschiedenen Größen, die auf ein himmelblaues Satinband gefädelt wurden, um dessen Schleife ein giftgrüner Plastikring in Froschform gesteckt ist;
• eine Packung Mentholzigaretten von Marlboro, darin fünf Zigaretten, aus denen Tabak gebröselt ist, sowie ein blau-transparentes Einmalfeuerzeug;
• eine gelbe Lernkarteibox, auf deren Kärtchen Englischvokabeln der 5. bis 7. Klasse in ungelenker Schrift stehen, die meisten der Kärtchen befinden sich in den ersten Abteilungen der Box;
• ein elfenbeinfarbener Würfel, dem die Augen abgefeilt wurden;
• eine halbleere Packung Milka-Pralinen in Herzform, unter der eingerollten Schutzfolie sind die verbleibenden Pralinen weiß angelaufen;
• ein abfotografiertes und ausgedrucktes Foto einer Maus, die mit Hilfe einer Leiter aus einem Sherryglas trinkt;
• ein rundlicher Flakon mit einer geringen Menge transparenter Flüssigkeit und einer milchigen Perle darin, der abgebrochene Zerstäuberkopf provisorisch mit Tesafilm befestigt;
• ein völlig ausgetrocknetes Kastanientierchen mit aufgeklebten Kulleraugen, Eichelhut und Zahnstocherbeinen;
• in einer blauen Juwelierschatulle eine Uhr mit der Gravierung "Zur Jugendweihe", das Armband eine grobe Gliederkette aus Silber mit Klippfaltschließe, stehengeblieben Dreiviertel Zehn;
• in einer Plastiktüte mehrere unbenutzte Spuckbeutel mit Mundstück und Gebrauchsanweisung;
• ein Handy-Charm mit strassbesetztem Fußballanhänger, dessen Oberfläche sich durch Reibung rötlich verfärbt hat;
• Strümpfe in allen Farben, davon mehrere deren Sohlen im Bereich der Ballen oder der Ferse nur noch aus feinen Fäden bestehen, und andere, die für besondere Anlässe aufgehoben wurden;
• ein Paar handgestrickte Socken der Großmutter für die Mutter, in Primärfarben geringelt, die an der Sohle an mehreren Stellen mit blauem Faden gestopft wurden;
• eine geöffnete Packung Orthomol immun onko;
• ein Zigarettenetui aus Metall, in dessen Deckel ein Spiegel geklebt wurde und in dem eine mit einem hellrosa Faden gebundene blonde Locke liegt;
• ein Stapel gebügelter Taschentücher mit Häkelspitzenrand und eingestickten Initialen der Mädchennamen der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter;
• eine geknitterte Packung Tempo, darin noch sechs Papiertaschentücher und eine gefaltete Binde der Marke always;
• ein Vampirgebiss aus Plastik in Kindergröße, in dessen Zahneinkerbungen dunkelgraue Fusseln kleben;
• eine runzelige Knolle, die sich nach aufmerksamer Pflege als Trägerin eines Keimlings entpuppt, der zu einem einzigen Spross heranwächst.

Annäherungen an G0tt

21 06 2024

Ein paar Tage zuvor angekommen, hält Eden Wache auf einem Posten am Berg Tabor. Er lehnt sich unbequem gegen das Geländer. Vor ihm gehen die Lichter an, in den Dörfern am Fuß des Berges. Hinter ihm schleicht der Wind durch die Bäume. Tagsüber ist wenig los. Jugendliche aus den umliegenden Dörfern fahren mit Mopeds den Berg hinauf. Man hört, wie die Motoren aufheulen und wie die Jungen sich gegenseitig anschreien, um den Lärm zu übertönen.# # # # # Beim Ankommen haben ihm zwei Soldaten die Einsatzregeln erklärt. Einer sprach und der andere mimte das Prozedere. Man rufe zum Verdächtigen, er solle stehen bleiben. Wenn der Verdächtiger zweimal auf die Einweisungen nicht reagiere, solle man damit drohen, zu schießen: Wakef, wala ana batuchek. Der Soldat nebenan nahm sein Gewehr, hielt es hoch und spannte es aggressiv an. Erst dann schieße man wirklich. Zuerst in die Leere. Dann vorsichtig auf die Beine. Wenn man sich danach immer noch bedroht fühle, schieße man höher. Er hob den Lauf mittig an.# # # # Von Süden aus sieht der Gipfel Berg Tabor spitz aus und von Osten aus rund. Am Gipfel sprach Gott aus einer Wolke und nannte Jesus seinen geliebten Sohn und im Taborlicht strahlte sein Gesicht wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Am Fuße des Berges wurde gebohrt, um Öl zu finden, aber ohne Erfolg.# # # # # Bei Hochzeiten wird in die Luft geschossen. Nicht einzelne Schüsse, sondern Dauerfeuer eines Gewehrs. Wind weht die Musik vom Dorf Richtung Berg und dann wieder woanders hin. Manchmal hört man die Schakale heulen. In anderen Nächten sind sie plötzlich ganz still. Es gibt kein Licht im Außenposten und auch nicht um ihn herum. Wenn die Sonne untergeht, verschwindet Eden in der Dunkelheit und mit ihm auch der Berg.

28 06 2024

Sie

Schlupfwinkel aller unreinen und abscheulichen Vögel, die in blutigen Feldzügen wandelt; dem reinen Fleisch in Schrecken unterworfen. Die heißen Atem, Hurenhauch entfacht, Blut Scheiße Kräuterfarbe ihre Pracht. Die so manchen Mann verrecken sah, isst sie das Fleisch der Stiere, trinkt das Blut der Böcke, gierige Zungen ergötzen sich daran. Einst groß und schön, hurte sie sich zu Tode, welkte hin, wurde zu Staub. Die das Opfer von Blut und Fett, das einst, gesalzen und mit Reizgerüchen gewürzt, den Gott speiste, Ihm einen Körper machte, an sich riss, und sich nicht genug tun konnte in dem hämmernden, mit der Faust schlagenden hohlen Ton, von geblähten Eingeweiden redend, frag- und grenzenlosen Gehorsam einfordernd. Der Ton war schön und empfand sich selbst als schön. Schön auf eine grausam bedingungslose Weise, im unverschämten Geiste des Fleisches.
Ihr Kuhreigen unerbittlich erklingt; Blut- und Wundenkult, die Mutter der Huren singt. Götzen lauscht sie ab, in diesem Reich; mit ihrer Unzucht hat sie die Erde verdorben. Oh Du Heilige, von den Schlachthöfen bekannt, Schönheit in Grausamkeit, absolut und rein, im Geist des Fleisches soll sie ewig sein.
Ihre Stimme, durch die die Welt erkrankt; Schöpfungsklänge vom Heiligen Terror entfacht. Blökende Predigt, frohe Botschaft aus den Schlünden der Tiere; alles was kriecht, preiset Die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde, denn sie war trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu.

Ausgeburt des Exzesses, Orgie der Verschwendungssucht; Meute, die sich zusammenschart um all das, was ihre Geilheit heraufbeschwört; Kuhreigen des schizogamen Zornweingedankens in ihrem goldenen Becher, in den sie den Wein doppelt so stark reingespuckt hat. Das letzte Abendmal wird zur heiligen Trunkenheit und das Blut der Zeugen Jesu, welches in ihr verdorben war, speiste die vielen Gläubigen und sie speiete es aus und sie wurden alle trunken davon, die Priester Gottes und das Licht und die Farben und der Gesang der Jünglinge und das anorektische Mädchen und der Mond wurde rot wie Blut und das Heil und die Macht und die Herrlichkeit ist ihr von den abscheulichsten aller Tiere dieser Erde und allem, was auf dem Boden kriecht, verliehen worden; O wunder Mond, Blut jungfräulicher Unberührtheit, O Götzen, entzückt eure Priester, entzückt uns zu erster und letzter Lust, erhitzt unser Blut, dass es zischend am kalten Mond verrauche! O roter Mond!

Die Hure sang, ein Lied der Unzulänglichkeit erklang. Fünf Stimmen, sich zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend; drei Tage lang Todesmadrigale singend, von den bebenden Lippen scheußlicher Götzenbilder, in Ewigkeit geweiht. Zittere, Du bebendes Geschöpf! Spiele und singe das Heilige Hohelied des Brand- und Schlachtopfers der bunten Kuh!

Die Hure sang
Wenn jemand aus dem Volk ohne Vorsatz sündigt, weil er etwas vor der großen Tempelhure Verbotenes getan hat, so wird er schuldig. Er soll die Hand auf den Kopf des Sündopfers legen und es dort schlachten, wo man das Brandopfer schlachtet. Der Priester soll mit seinem Finger etwas vom Blut auf die Hörner des Brandopferaltars tun und dann das ganze Blut am Sockel des Altars ausgießen. Er soll das ganze Fett ablösen, wie man das Fett eines Heilsopfers ablöst, und der Priester soll es auf dem Altar in Rauch aufgehen lassen als beruhigenden Duft für die Hure und so für sie Versöhnung erwirken; dann wird ihm vergeben werden. Er soll die Hand auf den Kopf des Sündopfers legen und es dort schlachten, wo man das Brandopfer schlachtet. Der Priester soll mit seinem Finger etwas vom Blut dieses Opfers nehmen, auf die Hörner des Brandopferaltars tun und das ganze Blut am Sockel des Altars ausgießen. Das ganze Fett soll er ablösen, wie man das Fett des Schafes eines Heilsopfers ablöst. Der Priester soll die Fettteile mit den Feueropfern des HERRN auf dem Altar in Rauch aufgehen lassen und für ihn so Versöhnung erwirken, um ihn von seiner Sünde zu lösen, die er begangen hat; dann wird ihm vergeben werden

Mit der Mundpeitsche ihrer Geißelung hat der Großen Mutter Hure alle Völker Rassen Stämme betrunken gemacht mit dem Zornwein ihrer Hurerei.

Eine Gruppe von drei nackten Jünglingen aus dem Feuerofen bietet sich den Priestern als Blutopfer an. Aufpeitschende Monotonie, Posaunen, Trompeten, Krummhörner, Pfeifen und Orgeln, und dazu singt man auch daher; da hört man schändliche und unehrliche Buhllieder und Gesang. Die, deren Blut geschändet werden sollte waren keusch wie der Mond.

Wie sich der heilige Bläserklang in die Jünglinge einfickte, rieb sie sich an ihren Bluteicheln; mit Hunden hat sie sie hinweggehetzt. Jetzt unter ihren Hunden wütet sie mit schaumbedeckter Lippe, und nennt sie Schwestern; wie eine kleine Prinzessin, deren Füße weiße Tauben sind, tanzt sie durch die Felder, hetzt sie die Meute, gleich einer Hündin die ein Menschenschoß gebar, Hunden beigesellt; den Zahn schlägt sie in die zarten Jünglingsbrüste, sie und die Hunde, im Scharlach ihres Blutes sich wälzend.
Hinweg!, sprach sie zu den Hunden, gesättigt bis zum Ekel schon. Ich will sie sehn!
Sie mag keine Toten sehen, außer wenn sie selbst gemordet hat. Blutopfer! Blutopfer! Tochter einer blutschänderischen Mutter; der Menschen Hände bändigen sie nicht mehr.

Das Volk fällt angesichts des Opfers in einen Rausch von Selbstmord und Geschlechtsverkehr und sinkt schließlich erschöpft in den Schlaf.

In diese Welt aus Schein und Zucht drang der ekstatische Ton, den gewaltsamen Tod zu preisen; zum Lob und Preis der Hure, wie aus einem Mund, der den Himmel erprobte; denn sie ist ewig währet ihre Schuld, das Unmaß ihrer Sünden schreit zum einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und unvorstellbaren Gott:

Fresst euch satt an ihrem Hurenfleisch,
Denn in ihr ist das Blut von Propheten und Heiligen gefunden worden und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind.
Alles, was Atem hat, preist sie mit Macht und Lust, preiset sie mit Jubel alle Tiere der Erde,
Denn sie ist gefallen, aber sie hat sich nichts gebrochen.

05 07 2024

Das Baby liegt im Gitterbettchen und wirft im Halbschlaf den Kopf hin und her, nuckelt schmatzend an der Hand. Er, der Vater, schreckt im Bett daneben aus einem wirren Traum auf und dreht sich auf den Rücken. Er setzt sich hin, sortiert den Raum. Es hat wieder Hunger.

Die Fläschchen hat er gestern vor dem Schlafengehen vorbereitet: zwei Messlöffel Milchpulver, eine Thermoskanne warmes Wasser, zwei Tropfen auf die Innenseite des Handgelenks. 38 °C.

Es ist die dritte Flasche heute Nacht. Das Baby liegt in seinen Armen, nuckelt zufrieden vor sich hin und strahlt Ruhe aus. Die Nähe zwischen ihnen vertreibt den seltsamen Traum, dafür meldet sich sein leerer Magen. Er legt das Baby, als es wieder eingeschlummert ist, behutsam ins Gitterbett und lässt die Hand für eine Weile auf dem kleinen Körper ruhen. Der Atem fließt gleichmäßig. Es wird weiterschlafen.

In der Küche springt der Kühlschrank an.

Er ist müde und will sich wieder hinlegen, kann aber nicht. Genau an der Stelle, an der er eben noch lag, ragen ellenlange Stacheln aus der Matratze. Lang, dünn und schwarz durchstechen sie das Laken. Er runzelt die Stirn und fährt mit flacher Hand über die Spitzen der Stacheln, die bei der Berührung leicht erzittern.
Plötzlich zieht sich sein Magen zusammen. Er beugt sich hastig über das Babybett und betastet mit klopfendem Herzen die Matratze. Sie ist weich, kuschelig. Das Baby seufzt zufrieden.

Er wartet einen Moment, bis sein Atem sich beruhigt hat. Dann greift er nach dem leeren Fläschchen und geht in die Küche. Dort stellt er es in die Spüle, öffnet den Kühlschrank und blickt für einen Moment ins helle Nichts. Das Licht der Innenbeleuchtung flutet die Küche und blendet. Er kneift die Augen zusammen. Da ist O-Saft. Toast.

Sein Blick fällt auf etwas Dunkles, Rundes in der linken hinteren Ecke des oberen Kühlschrankfachs. Wie aus dem Nichts drückt sich dort ein Seeigel an die feuchte Rückwand des Kühlschranks. Eine stachelige Pupille zwischen Butter und Marmelade.

Er nimmt den O-Saft, trinkt einen großen Schluck und betrachtet das Tier. Hinter dem Seeigel glänzt etwas Schimmel und einige seiner Stacheln stecken in der Butter. Er stellt die Lebensmittel beiseite, beugt seinen Oberkörper weiter ins Licht und legt den Kopf direkt neben dem Tier auf das kalte Glas des Kühlschrankfachs.

Die Stacheln bewegen sich vor seinen Augen sacht hin und her. Sie scheinen einer anderen Zeit anzugehören. Er kneift die Augen zusammen, um zwischen den Stacheln das Rund des Körpers zu erkennen. Doch sein Blick verliert sich, denn die dichte Schwärze des Tiers verschluckt das Licht der Kühlschranklampe vollständig.

Er schmeckt Salz. Er streckt, einer seltsamen Lust folgend, seine Zunge nach der nächstgelegenen Stachel aus. Er schließt die Augen und stürzt, als seine Zungenspitze die Stachel berührt, kopfüber an den Anfang.

12 07 2024

Die Bilder sind Ausschnitte, aus Schnitten gebildete Orte, dazwischen Lücke, in der Vorstellungskraft sich ausbreitet, gleich Brombeerranken auf Brache, Ruine, Rahmen. Durch Variation werden Blätter und Dornen zu Betten und Finger, an der Oberfläche geschnitten, sammeln Kratzer, Vorgartensubsistenz, Wohnzimmergroßhandel und eine Staubwolke auf den Great Plains, die als Ikone der Wirtschaftskrise verwahrt wird.

Es war kein Priester dabei, als der Vater starb, um die Seele in die richtige Richtung zu schicken. Dafür bei der Geburt. Die Szenerie ist ungefähr so vorzustellen: ein Bett, beide Male. Nur der Geruch ist anders.
Ein Türchen zum Innenhof des Pfarrhauses schwingt nach außen. Licht fällt auf die schmale Treppe, frische Luft drückt hinein, heraus drückt Abgestandene sowie ein Priester. Er geht, ganz in schwarz, wie es sich gehört, zum Fahrrad, das im Schatten der Remise an der Hauswand lehnt, unausgeschlafene Frühlingsschritte, es ist ein Sonntag im Mai, schiebt das Rad durch die gemauerte Toreinfahrt, über Kopfsteinpflaster, oder besser, über einen Weg aus festgetretener Erde, und steigt auf, als niemand zusieht. Ein Priester auf dem Rad, mit wehendem Rock, auf dem Weg zum Horizont, ist erhaben; nur das Aufsteigen ist ungelenk. Der Priester ist in Ordnung, warum nicht, er hat noch keine Pflichten verletzt, den Mitmenschen gegenüber und Jesus Christus (Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meiner Herde!), denn das große Unrecht ist noch nicht vorhanden, nicht mehr lang, ganz bald wird er nichts unternehmen, aber noch heißen die Sorgen Hunger, Arbeitslosigkeit, Jenseits.
Stehend auf nurmehr einem Pedal, zum Absitzen bereit, ist das Ende der Fahrt angezeigt. Ein Haus am Stadtrand. Es liegt darin eine Mutter in den Wehen. Es riecht nach Kautschuk und Brot. Die Mutter ist alt, über vierzig, also muss das kleine Ding gesegnet werden, bevor es zurück in den Himmel geht.
Es ergibt sich, dass der Priester seinen Segen austeilt, aber hinein in ein, zweifelsfrei lebendiges, ohrenbetäubendes Schreien, und gewissermaßen ohne triftigen Grund, weil der Vater noch nicht stirbt, sondern erst neunzig Jahre später, ganz ohne Priester. Aber weil der Priester in Ordnung ist, im Moment der Segnung, schadet der Segen nicht und der Schrei geht, vielfach modelliert und verbessert, lange, lange weiter.

In der Wiederholung werden Blätter und Dornen zu Schemata, entfernen sich in zunehmender Abstraktion und nähern sich an, indem sie Zuordenbarkeit und Geltung gewinnen. Ein frommer Mann empfängt die Nachricht über die Nichtexistenz Gottes aus einem willkürlichen Muster, also von Gott selbst. Das traditionelle Gewand ist Massenware, die Bewegung im Fahrtwind in Formeln zu beschreiben. Die befruchtete Zelle wächst heran, ohne Zustimmung, gleich der Bewegung von Erde und Sonne, unter einem Schleier des Geheimnisvollen.

Etwa zehn Jahre später sinkt die Sonne über den Sportplatz und produziert so absichtslose wie angenehme Lichteffekte. Um den Sportplatz ist ein Zaun gezogen, er trennt Gelände von Gelände. Auf der richtigen Seite ist Rasen, Kameradschaft wie auch eine Zukunft für die Körper, die in Ordnung gebracht sind. Alles andere ist auf der falschen Seite.
Zu sehen ist eine kleine Horde Jungen in kurzen Hosen, als Kinder zu erkennen an knolligen Knien und dünnen Oberschenkeln. Der Vater ist dazwischen und von den anderen nicht zu unterscheiden. Hier steht die Jungend unter freiem Himmel und freier Sonne und wird bewegt, denn die Energie, die sie freisetzen kann ist ungeheuer. Ein Junge ist der Anführer, wie in der Natur. Seine Autorität ist umso griffiger, weil er auf den Anlaut verzichtet. Ein paar Jahre ist er älter, und Teil der Bewegung, und wenn ein Kind nicht tut, was er sagt, sagt er es nicht noch einmal, schließlich ist Krieg. Dafür brüllt er, wie aus dem Radio bekannt, richtig zackig, knackig wie ein knackendes Radio, runter, drei Runden um den Platz, Liegestütz, los. Der Vater aber kennt den Jungen, nicht seine Funktion im Apparat, aber sein armseliges Elternhaus, so ein Aas, der hat mich nicht anzubrüllen. Also duckt er sich weg, rennt weg, nimmt die Beine in die Hand (das einzige, das man wirklich nicht in die Hand nehmen kann) und verschwindet über den Zaun.

Die Ranke umwächst die Bilder, trennt sie ab, verschiebt sie ins Symbolische. Das Geschehen wird zum durchlässigen Vorwand dessen, was nicht geschah. Tradition tritt auf, um den Bruch mit ihr zu verschleiern, das Nibelungenlied als Ohrwurm im Radio. Fasern und Blätter, Dornen werden Platzhalter anderer Eventualitäten.

Ganz in der Nähe des großen Platzes liegt eine kleine Straße, deren linke Seite aus dem Krieg als Siegerin hervorgegangen ist. Es geht vorbei an den ordentlich geschichteten Trümmern zur Rechten und auf eine Tür zu, der man in der Dunkelheit ihre grüne Farbe nicht ansieht. Die, mit dem ernüchterten Messingklopfer, der, nunmehr unberührt, schwingend die Bewegung der Tür nachzeichnet. Im dritten Stock eine Zweizimmerwohnung, die von einer Dame und ihrem Untermieter bewohnt wird. Er ist der Vater sowie Musikstudent mit dicken Backen und Augen von der gekünstelten Traurigkeit eines Hollywoodstars. Er hat ein ordentlich gemachtes Bett, umso ordentlicher, weil er davor liegt auf dem Läufer, den Wecker als Kopfkissen. Er muss um halb drei wach sein. So ist es besser, auf dem harten Boden zu liegen, als im weichen Bett, weil der Schlaf weniger tief ist und der Übergang weniger schmerzhaft. Wund fühlt sich das Hirn trotzdem an. Das Zimmer kommt ohne Dekoration aus und tagsüber sind Straßenbahnen zu hören. Es gleicht dem Gesicht eines Mannes, der in einem Dreiteiler aus verschlissener Wolle an der Ecke steht, die Hände in den Taschen und den Hut tief ins Gesicht gezogen, auf keine Straßenbahn wartet und nie darüber sprechen wird, was er in Erfahrung gebracht hat.

Jedes Blatt ist einzeln vorhanden, jede Blüte verkörpert die Realität einer süßen Frucht. Das Bett liegt unberührt, eine Senke, ein Beet. Gesichter wechseln ihre Träger, Amerika nähert sich, produziert, wenn es wach ist: Ein Zimmer, ein Karton, Kokon, horizontale Metamorphose, platzsparend geschichtet.

Der Vater läuft einen Korridor hinauf und wieder hinab, tritt mit schwingenden Armen in die Umkleidekabine, berührt nichts, singt Tonleitern im Falsett. Beobachtet die Wand. Jemand kommt rein, sagt, die Reihen haben sich gefüllt. Der Vater atmet gegen sein Herz. Der Bretteraufbau an der Stirnseite der Stadthalle ist genau der Ort, an dem er ankommen wollte, obwohl die Angst, die dort wartet, so überwältigend ist, dass das Herz davon anschwillt, wie das eines Sportlers. Die Zuschauer sind gekleidet, als erinnerten sie die Lebensmittelkarten nicht mehr und ihr Enthusiasmus für hohe wie auch reine Kultur ist immens, man denkt wieder ungebrochen über Deutschland. Dazu ein paar lose Groschen in den Hosentaschen, die Stadthalle ist nicht die Scala, doch es gibt zu hören: das hohe Lied. Der Vater also steht vor Publikum in weiten Hosen und Hüten und Gesprächen und ist ganz umschlungen von seiner Angst, was als Sausen in den Ohren zu bemerken ist. Jede Bewegung ist Lärm, im nächsten Moment aber schsch, was ist es still und der Pianist fällt wie ein Betttuch in plötzlicher Flaute, weil auch von angehaltenem Atem begleitet, Richtung Tasten und es kommt: Bedeutung. D-Dur, eine Stufe, noch eine, in geziert dehnenden Achteln, an den richtigen Punkt und sich teilend als federnder Bogen in die Höhe und flacher hinab. Da ist der letzte Atemzug des Vaters als sei er verliebt, unglücklich verliebt in seinen Einsatz: du holde Kunst. Ohne Gefühl wäre es wertlos.

Die Ranke schert sich nicht um Geschichte, umwindet Denkmäler, verhüllt sie, verziert, bringt sie zuweilen zum Einsturz. Ihre Einzigartigkeit ergibt sich aus keiner Gestalt, folgt einzig aus Positionen, Korrespondenz.

Der Vater ist nicht mehr jung, aber noch stark. Er ruft seinen Sohn zu sich, der so klein ist, dass alles, was weiter als dreißig Meter und länger als fünf Minuten entfernt ist, als Traum erscheint. Der Sohn will nicht, dass der Moment endet und kommt nicht, läuft weg, wie der Wind so schnell.
Vom Vater verfolgt, klettert er auf einen Baum, der aber nicht hoch ist, sodass der Vater seinen Fuß mühelos zu fassen kriegt.
Die Landschaft sieht aus wie ein Spielplatz, ist aber tatsächlich Landschaft: weit, verschachtelt, bedeutungsschwanger. Der Baum, auf den der Junge flieht, ist schon über das bewohnte Gebiet hinaus, er ist in der Wildnis der Büsche drüben, die zu betreten ein Kind keinen anderen Grund hat als die Flucht. Es ist ungeheuerlich, dass der Vater ihm dahin folgen kann, auf die weiße Fläche der Karte, wohin er sich selbst kaum mitnehmen kann.
Der Vater, hier als Mann, seine Haut bräunt schnell, hat schon viel erlebt, davon weiß so ein Sohn aber nichts. Er steht und redet mit einer Mutter, die Traurigkeit eines Hollywoodstars aus früherer Zeit um die Augen. Ihm gleicht die Situation dem Verschieben eines feuchten Haufens Sand. Der Vater ist Autodidakt im Zwischenmenschlichen, hat mit Frauen nicht an Festtafeln umzugehen gelernt, sondern in freier Wildbahn. Es ist kein Skript da, das mit verschränkten Armen auf dem Spielplatz eines Kindergartens aktiviert werden kann. Die einzige Kompetenz hier ist Reden mit verschränkten Armen, die in Nachbarschaft und Kleingarten-Kieswegen ihre Vorlage hat. So beschreibt der Wunsch des Vaters das Gegenteil desjenigen seines Kindes: dass es ende. Und so sehr sich der Kleine festklammert, es gibt kein Halten, und mit einem kräftigen Ruck, vom Vater als mäßig empfunden, vom Kind als ungeheuerlich, die Hände wie Rinde in Fetzen reißend, pflückt der Vater das Söhnchen vom Baum.

Als Gegenteil von Raum und Zeit ist die pflanzliche Form ganz flächig, denn in jede Richtung könnte sie einen Weg finden, zum Schrei, aufs Bett, ins Publikum, Biegung, Blätter, Dorn.

Der Vater, sehr alt, biblisch alt, liegt auf einer Luftmatratze, damit ausgelassen werden kann, falls wiederbelebt werden muss. Auf weichem Untergrund geriete ein Körper als Ganzes in Schwingung, wobei die Bewegung zwischen Rippen und Grat, innerhalb des Körpers, herbeigeführt werden soll. Die Stimme klingt, ganz ohne Stimmbänder, wie ein Strohhalm beim letzten Schluck. Es riecht nach Tee und Feuchttüchern. Es ist kein Priester dabei. Am Ende werden die Rippen wie Gummi und die Lippen werden wie das Meer, blau, oder die Ewigkeit. Wird aber das Herz durch rhythmischen Druck in Bewegung gebracht, werden die Lippen wieder rot.

Die Ranke unterliegt keinem Rhythmus des Wachstums, sie ist immer schon da gewesen. Ihr Ausklang schließt mit dem Anfang, lose Fäden, die der Wind bewegt, wartend, dass die Fasern sich trennen, entzwirnen.

IRL

03 11 2023

Marlene sagt: Manchmal muss ich weinen, weil ich plötzlich daran erinnert werde, dass mein Leben wie ein schöner Traum ist, und warum muss ich daran eigentlich erst erinnert werden? Warum begleitet mich dieser Gedanke nicht durch jede Sekunde meines Daseins?

Marlene liebt ihr Leben, und sie liebt natürlich auch ihren kleinen Bruder. Aber die Liebe, die sie für ihr Leben empfindet, ist doch von einer anderen Art als die Liebe, die sie für ihren kleinen Bruder empfinden muss. Indem wir lieben, erschaffen wir das Objekt unserer Liebe noch ein zweites Mal; wir erschaffen uns den Gegenstand unserer Liebe als einen, den zu lieben wir tatsächlich im Stande sind. Marlene kann ihr eigenes Leben deshalb aufrichtig lieben, weil sie es sich selbst geschaffen hat. Sie hat es sich geschaffen, indem sie immer hart gearbeitet hat auf ein Ziel hin, das sie sich gesetzt hat.

Aber Marlene sagt auch: Ich hätte es nie geschafft, wenn ich nicht beschlossen hätte, dass das, was ich will, gut ist. Die Dinge sind nicht von Natur aus gut oder schlecht. Man muss sich entscheiden, das Gute in ihnen zu sehen oder eben nicht.

Tobias sagt: Wer von mir trinkt, der wird durstig sein, und wer von mir isst, der wird hungrig sein. Was ich damit sagen will ist, dass ich ein Loch bin ohne Boden, für alle, die mich lieben wollen, aber eben auch für mich selbst.

Marlene kann es nicht mehr hören, und wenn sie in Frankfurt ist, dann besucht sie ihren Bruder schon lange nicht mehr gerne in seiner Wohnung an der Bockenheimer Warte. Tobias wohnt immer noch in dieser Wohnung, jetzt, wo Marlene daran denkt, ist es völlig absurd, dass Tobias immer noch in dieser furchtbaren Wohnung wohnt, wo sich doch alles so verändert hat in den letzten Jahren, aber sie wohnt ja auch schon seit fünf Jahren in der Wohnung in der Nähe des Place de la République, aber das ist doch etwas anderes, denkt Marlene.

Marlene hat Angst, wenn sie an die nächste Präsidentschaftswahl denkt, und das ist wirklich eine ganz echte Empfindung. Bald wird Marlene auch die französische Staatsbürgerschaft haben (wenn sie und Matthieu heiraten), und dann wird sie in Frankreich Macron wählen und in Deutschland die Grünen.

Marlene, die sonst niemals hasst, hasst Tobias, weil sie ihn lieben muss, und weil er es ihr so schwer macht, sie zu lieben. Tobias hasst Marlene, weil sie ihn an seine Schuld erinnert, und an seine Schuld muss Tobias nicht erinnert werden, im Gegensatz zu Marlene, die daran erinnert werden muss, dass ihr Leben schöner ist als der schönste Traum, den sie träumen könnte, und dass dagegen jeder echte Traum immer nur ein Albtraum sein kann.

Wenn Tobias nachts sein frisch vollgewichstes Soft-und-Sicher-Taschentuch wegschmeissen will, dann muss er nochmal aus seiner Wohnung auf die Toilette am Flur, die er sich mit den anderen Einzimmerwohnungen auf dem Stockwerk teilt, so wie die Ausländerfamilie, die sich eine der Wohnungen auf dem Flur teilt, oder er legt das nasse Taschentuch bis zum nächsten Klogang auf die Heizung. Im Kontext seines Hauses ist Tobias egoistisch, weil er allein in seiner Einzimmerwohnung wohnt, während sich nebenan eine Familie den selben Raum teilt.

In Marlenes Kopf ist Tobias egoistisch, weil er in seinem Kopf eine perfekte Version unserer Gesellschaft entwirft und dann beleidigt ist, weil die echte Welt nicht so ist. Tobias hätte jede Möglichkeit gehabt (und, mit gewissen Abstrichen, hätte er immer noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten), aktiv an der Verbesserung dieser Welt mitzuarbeiten. Aber anscheinend, denkt Marlene, hat Tobias daran überhaupt kein wirkliches Interesse, und er hat es sich stattdessen eingerichtet in einer hoffnungslosen Welt und in einer Hoffnungslosigkeit, die ihn bequemerweise von seiner Verantwortung entbindet.

Marlene sagt nichts davon zu Tobias, wenn sie ihn besucht. Sie weiß, dass sie Tobias’ Meinungen nicht als Meinungen begreifen darf, sondern dass sie sie mit Verständnis betrachten muss, weil sie nur Äußerungen sind einer Krankheit, die keinen Namen hat, weil Tobias sich weigert, sie als Krankheit zu begreifen, aber sie hasst Tobias insgeheim dafür, dass er nicht seinen Teil tut.

Marlene hasst Tobias, wie man nur einen Kranken hassen kann und wie man nur hasst, wenn man gezwungen ist, zu lieben und Mitleid zu empfinden und moralisch in die Ecke gedrängt wird und keine Wahl hat. Das Lieben und die Barmherzigkeit sind nur so lange edle und erhebende Gefühle, wie man sie aus freien Stücken und aus eigener Entscheidung ausübt. Wer aber nur liebt, weil geliebt werden muss, der tut ja nur, was er eh soll und weil er ein Arschloch ist, wenn er es nicht tut.

Das Treffen zwischen Bruder und Schwester ist kurz und Marlene fragt gar nicht erst nach Zucker oder Milch für den ekelhaften Kaffee, weil ein Blick genügt in die dunkle Küche mit den leeren Schränken und der Schachtel Jodsalz auf der Arbeitsfläche. Es sind so viele Dinge, nach denen Marlene lieber nicht fragt, dass sie am Ende gar nicht mehr weiß, wonach sie Tobias überhaupt fragen soll.

Die ganze Zugfahrt hindurch und noch bis in ihre Wohnung hinauf antwortet Marlene in ihrem Kopf auf all die Sachen, die Tobias gesagt hat, über die Europäische Union und über Russland und über Hegel und Fichte und über die Maßnahmen, und in ihrem Kopf antwortet sie vernichtend und triumphal und wünscht sich, dass sie mittags in Frankfurt so geantwortet hätte, anstatt dem, was sie stattdessen nicht gesagt hat und anstatt der mitleidigen Blicke und mitfühlenden Fragen und aufgezeigten Optionen von Therapie und Arbeitssuche.

Marlene isst ihr bestelltes Essen und schaut auf dem Handy erst Tagesschau und dann Daily Show, aber sie kann heute nicht lachen und vergessen beim Anblick von Trevor Noahs freundlichem Gesicht und nur zustimmen, was nicht befriedigend ist, weil Tobias in ihrem Kopf mit schaut und sich lustig macht über Trevor Noah, so, wie er sich lustig macht über Stephen Colbert, und bitter erinnert sie sich daran, wie sie früher zusammen gelacht haben über Noah, Colbert und John Oliver. Der Bericht über Niger in der Tagesschau hat sie unruhig gemacht, obwohl Matthieu ja gar nicht in Niger ist, sondern in Mali, der Bericht mit den wütenden Männern, die schreien, dass sie die Demokratie hassen und den Westen und ganz besonders Frankreich, obwohl man das natürlich verstehen muss und es außerdem bestimmt eh nur vom Militär bezahlte Demonstranten sind und das echte Volk bestimmt keineswegs die Demokratie hasst, aber trotzdem.

Marlene wünscht sich, dass Matthieu jetzt hier wäre bei ihr, und nicht in irgendeinem Hotel in Bamako, aber sie möchte ihm das auch nicht schreiben jetzt, weil sie ja weiß, dass Matthieu sie auch vermisst und sich nur schuldig fühlen wird, wenn sie ihm nun schreibt, dass sie ihn gerne hier hätte, und weil sie ja eigentlich stolz darauf ist, dass Matthieu dort so wichtige Arbeit leistet und sie ihn liebt dafür, sich in ihn verliebt hat, weil er dort so wichtige und schwierige Arbeit leistet, und es ist ihr egal, dass er dafür viel weniger verdient als sie bei der Europäischen Union verdient.

Marlene träumt, dass sie in einem Büroraum ist mit Ventilator an der Decke, und schwarze Männer in Uniformen haben Matthieu an einen Bürostuhl gefesselt und Matthieu hat große Angst, das kann sie sehen, aber sie ist machtlos, sie ist nur ein Paar Augen in diesem Raum und hat keinen Körper. Der Mann am Schreibtisch hat die Beine mit den schwarzen Stiefeln auf den Tisch gelegt und trinkt ein Budweiser und lacht, lacht, während seine Untergebenen Matthieu ein Ohr abschneiden und dann das andere, und alle lachen, und Traum-Marlene schießen die Tränen in die Augen vor Zorn und Machtlosigkeit und sie schreit, dass die Männer doch statt Matthieu Tobias foltern sollen, aber niemand hört sie, und der Offizier trinkt weiter sein eisgekühltes Budweiser, während seine Männer Matthieu auslachen, der vor Schmerz weint und der niemals jemandem etwas getan hat und der Schulen aufbaut in Mali und den doch alle lieben.

Marlene wacht auf und schämt sich sofort dafür, wie sie geträumt hat von den schwarzen Männern, und dann schämt sie sich auch ein bisschen dafür, wie sie im Traum über Tobias gedacht hat, über ihren Hass auf Tobias, der sich im Traum Bahn gebrochen hat. Ihr Hass befremdet Marlene, weil er nicht zu ihr gehört, weil er zu Tobias gehört und den Menschen, die leider wie Tobias sind, und denen man helfen muss.

Marlene geht hinaus auf den Balkon und schaut über Paris bis hinüber zu Montmartre, wo sie als kleines Kind bei ihrem ersten Besuch in Paris Angst hatte vor den Schwarzen, kindische und irrationale Angst, für die sie sich jetzt in diesem Moment schämt, und um sich abzulenken öffnet sie die französische Zeitung auf dem Handy und liest, dass in Marseille ein ganzes Haus zusammengestürzt ist und alle Bewohner unter sich begraben hat, und wie wäre es wohl wenn das das Haus von Tobias gewesen wäre, und ob und wie genau sie dann weinen würde.

Tobias weint, weil es wieder nicht funktioniert, sein Gesicht zieht sich zusammen und sein Mund steht offen, egal wie lächerlich er es findet in diesem Moment und wie gewaltsam er versucht, es zu beenden, weil wieder dieser Moment eingetreten ist, in dem es nicht mehr funktioniert, die Flucht nicht mehr funktioniert und es ihn einholt, dass sein Versteck kein sicheres Versteck ist, weil es nur ein räumliches Versteck ist, aber er sich nicht verstecken kann vor der Zeit, die mitleidslos verstreicht, und vor denen, die vielleicht jetzt noch gezwungen sind, ihn zu lieben, die ihn aber zwangsläufig irgendwann hassen werden.

10 11 2023

Die Holzbänke in Arlington waren mit einer dünnen Lackschicht überzogen. Der zarte Film, der sich in den Furchen und Rillen der Marmorierung festgesetzt hatte, schimmerte gelblich und wirkte als dünne Membran zwischen dem ungeschützten, rohen Material und der Außenwelt, die sie nahtlos umschloss.

Über Nacht musste mir ein mittelschwerer Gegenstand aus einer gewissen Höhe ins Gesicht gefallen sein, denn ich blutete beim Aufwachen stark aus meiner Oberlippe auf das weiße Kopfkissen. Das Licht der aufgehenden Sonne warf sich schräg durch den kleinen Raum auf ein genopptes Buntglas, das die Strahlung auffächerte und sternförmige Kammern gleichmäßig über die Wand verteilte. Ich rasierte mich im Bad und beobachtete unter der Dusche heimlich die in sich geschlossenen Gesten meiner Hände unter dem gleichmäßig rieselnden Wasser, der abgespreizte Ringfinger stand in einer kongruenten Achse zu dem leicht nach unten abgeknickten Handgelenk, das ich immer wieder verwundert nach unten und dann wieder nach oben drehte. Ich versuchte, meinen Körper bei etwas zu ertappen.

Auf der Busstrecke von Dorset nach Arlington fuhr ich an dem schwarzen Steinobelisken vorbei, der sich wie eine Art Granitzapfen aus einem Waldstück über eingeschössige, flache Bungalows am Hang in die Höhe schraubte. Milchiges Licht traf auf einen etwas steril wirkenden Wald. Die Landstraße schob sich wie ein feuchter Gürtel unterhalb des Mount Equinox entlang und obwohl die Sonne schon aufgegangen war, brannten noch Lichter über den Parkplätzen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem es nur leicht aus einem blassgrauen, dreckigen Himmel regnete und ich nach einem kürzeren Aufenthalt in der eiskalten Community Library einsam über die freigelassenen Flächen des örtlichen Friedhofs lief. Die Grabsteine waren überraschend dünn, das Licht floss den Hügel hinab und ließ sie schattenabwärts beugen. Die nummerierten Steinstehlen ragten wie die Kirchtürme einer Stadt kahl über das Häusermeer. Auf dem blutrot grundierten Hinweisschild am Ausgang des umzäunten Grundstücks war von dem Manchester Vampire zu lesen. Man hatte eine gewisse Rachel Burton um das Jahr 1792 exhumiert und über einem feuchten Laubhaufen verbrannt. Ihr Grab lag östlich von hier. Wo genau, darüber machte das Schild, das von der William C. Pomeroy Historical Foundation, die ihren Sitz am alten historischen Feuerhäuschen hatte, keine weiteren Angaben. Das Emblem oberhalb der Schrift zierte ein Halbmond mit Gesicht, um den sich ein Wolkenmeer und mehrere sternschnuppenartige Erscheinungen wanden.

Der weißverchromte Zug fuhr den Hudson River entlang, der an diesem Morgen eine seltsam graugenarbte Wasseroberfläche aufwies. Ich sah mittelgroße Planstädte, die meist aufwendig um einen zentralen gusseisernen Springbrunnen herum organisiert waren und in denen ich um diese Uhrzeit keinen einzigen Menschen sehen konnte. Obwohl die Glasböden und Keramikwände kahl und sauber in der aufgehenden Morgensonne funkelten und auch die Orte allgemein keine Spur des Verfalls aufwiesen, wirkten sie an diesem Morgen verlassen. An mehreren großen Plätzen fuhren die Rolltreppen, ohne dass sich jemand auf ihnen befand.

Auf der schmalen, gut beleuchteten Zugtoilette betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Wangenknochen wirkten im Strahl der Halogenlampen noch eine Spur spitzer und magerer als sonst und auf meiner Stirn flockte die Haut in feinen Waben ab. Ich bin zu dünn, dachte ich. Die Frau im spitz nach unten gefassten, hellblauen Kleid, die mir in dem Sitz schräg gegenüber saß, kramte ein Blatt Papier aus der zerknitterten Plastiktasche, das wie eine Landkarte mit der feinen Kalligraphie einer wild auswuchernden Schrift überzogen war und in dichten Netzen die verschiedensten Landschriften skizzieren zu schien. Sie wirkten wie eine verwirrte Kartographie oder das Kalendersystem einer längst untergegangenen Zivilisation. An der Haltestelle Dobbs Ferry sah ich in einem schmalen Sichtdurchlass zwischen Parkbänken und einem im Schaukasten verrutschen, bleichen Fahrplan einen weißgestrichenen Propanbehälter, der an der Holzfassade einer winzigen viktorianischen Villa lehnte und durch ein gelbes Kabel mit dem Nachbarhaus verbunden war.

Wir hatten uns siebenunddreißig Tage nicht gesehen. Im Flugzeug setzten massive Verfremdungseffekte ein, die Maschine röhrte und ich sah nur noch die tiefschwarzen Lichter unter mir, die sich wie bedrohlich konkave Zeltdächer hoben und senkten, ich sah den großen Bogen nach Hause, der sich unter mir formte.

Am Hauptbahnhof rahmte die Zugtür sein Gesicht. Wir verharrten in einer langen, stillen, ausufernden Umarmung und fuhren dann in die Wohnung nahe Westhafen zurück. Unter unseren Fingernägeln leuchtete das Fleisch bläulich empor und zwischen unseren Handballen bildete sich in der Augustwärme eine dünne Schweißschicht, die wie eine Membran die Außen- von der Innenwelt abtrennte.

17 11 2023

Unweit der Verabredung steht das Parlament unter Blumen. Mit Versuchen erkläre ich mich, aber die Hälfte lässt sich nicht anwerfen. Ich gehe ein Stück, lege das Brot zurück ins Plakat. Es ist alles sehr gegenständlich, zu glänzendem Laub aufgehäuft an diesem Tag in einem Herbst in der Zeit. Mäntel karieren Felsen, Girlanden von Fragen schmücken die Stadt. Auch die Felder sind still, worüber Dinge aufkommen und verschwinden, ein Kunstwerk den Himmel bedrängt. Nicht ich schlief in meiner Unterschrift, als der Zettel schon dargebracht in eine der Holztruhen hätte absinken sollen. Nichts ist verdeckt. Scharen jeder einzelnen Autofiktion tragen dein Badezimmer in eine Welt, in der es auf Tierfüßen aufsetzt und du später einen Abstand gewinnst bei den unbestimmten Feierlichkeiten des Kaisers. Vorliterarisch taumele ich durch Paraden, tauche unter Medikamenten hindurch zu dir auf die große Straße. Der Ring ist kein Ring, sondern in weiten Strecken gerade.

24 11 2023

Ich erinnere mich an meinen ersten Tag im Trainingszentrum.
Nach der stundenlangen Fahrt durch einen spärlich beleuchteten Tunnel erreichten wir das Areal. Es lag in einer tropisch anmutenden, weitläufigen Talsenke. Der Wind ging allerdings scharf und trug eisige Tropfen. Aus den Hängen wuchsen reduzierte Wohnkomplexe, von denen sich einer noch im Bau befand. Von dort führten Gondeln zum Zentralbereich, wo etliche, schwarz verglaste Forschungsgebäude standen. Die oberen Etagen waren hier durch ein feines Netz von Skywalks miteinander verbunden. Ich empfand dieses ganze Szenario als ausgesprochen geschmackvoll.

Unmittelbar nach der Ankunft wies man den Neuankömmlingen Uniformen und Wesensprofile zu. Dann fanden wir uns im Großen Saal zusammen, wo die längste Nacht des Jahres simuliert wurde. Unsere Testaufgabe bestand darin, die Radioteleskope entsprechend auszulesen. Kleine, perfekt austarierte Handhelds aus stumpfem Metall. Wir visierten die vorgegebenen Koordinaten an, modellierten die Region um das Schwarze Loch Holm 15A und zeichneten die Massendaten auf. Daraufhin überprüfte die Trainerin, die ihr weißblondes Haar streng nach hinten gegelt trug, unsere Ergebnisse. Mich überkam eine unbekannte Hitze, als sie meine Daten auslas. Der karmesinrote Lichtbogen aus aufgeheiztem Gas, die rundliche, vollkommene Finsternis darin, Prognosen für Sternenbahnen und Massenverteilung. Nach ein paar flüchtig prüfenden Blicken auf meine Formeln, nickte die Trainerin, ohne eine Miene zu verziehen. Ich fühlte mich, als würde ich nur noch aus meiner Overall-Hülle bestehen, der Körper darin verdampft.
Die Trainerin ging zurück an das schmale Pult. Beim Gehen rieb der Stoff ihres sportlichen Anzugs aneinander, was kultiviert klang. Vorn bog sie eine Scheibe aus milchigem Plastik um einen Styroporball und demonstrierte, wie sich alles Beobachtbare um die gewaltige Masse wölbt. Sie sagte: Hier geht es um ein Wagnis, sie aber blicken bisher nur dahinter.

Am nächsten Tag fühlte ich mich frostig und erleichtert. Nachdem ich meine Schlafkapsel in einem der Wohnkomplexe verlassen hatte, nahm ich die Gondel zum Campus. Während der Fahrt fiel mir auf, dass die Baustelle am Hang verschwunden war. Ob dort nun ein weiterer dieser Komplexe stand, konnte ich allerdings nicht mit Sicherheit sagen.

Vor dem Großen Saal hielt ich inne und spürte die kühlen Tropfen, die in mittlerer Geschwindigkeit mein freiliegendes Gesicht trafen. Der Wind hatte nachgelassen. Es schienen sich nur noch wenige der Neuankömmlinge auf dem Gelände zu befinden.
Im Eingangsbereich las ein Mann in Schutzmontur mein Wesensprofil mit einem stabförmigen Scanner aus und ließ mich passieren. Ich nahm im Wartebereich Platz, schloss meine Augen und stellte mir eine unendliche, ereignislose Leere vor. Die Vorstellung kam so einfach und plötzlich über mich wie die Erinnerung an ein Ferienhaus, das man als Kind in den Sommerferien bewohnt hat, nicht wie eine kosmische Annahme. Darin zu verharren fühlte sich herrlich an.
Das in meinem Overall integrierte Device vibrierte. Auf dem Display am rechten Unterarm zeigte es mir den Weg zu meiner Initiation an. Ich folgte den Anweisungen, nahm den Aufzug und den Skywalk ins Nachbargebäude, passierte ein paar Flure, bis ich vor einer angelehnten Tür stand und das Device erneut vibrierte.
Im Laborraum stand mittig eine ovale Kapsel mit Monitoren, die in verschiedenen Blautönen leuchteten. Neben der Maschine saß ein Trainer zweiten Ranges. Selbst im Sitzen sah sein Anzug wahnsinnig sportlich aus. Er aktivierte blinzelnd den Scan-Modus seiner Brille und fixierte mich. Dann wies er mich an, in die Kapsel zu steigen. Darin saß ich wie in einem kalten, ergonomischen Kunstledersessel. Die Kapsel schloss sich und vollkommene Dunkelheit hüllte mich ein. Ich spürte, wie sie mir wohltat, wie sich mein Pulsschlag verlangsamte. Im Nachhinein ist es unmöglich, genauer zu erklären, was während der Initiation im Nihilautomaten mit mir passierte.
Als ich die Kapsel wieder verließ, war es bereits dunkel. Ein anderer Trainer saß im Raum und sah nicht von seinen Unterlagen auf, als ich vor ihm stand. Ich fühlte mich wie ausgewechselt und meinte, Details in meiner Umgebung wahrzunehmen, die vorher getarnt waren. Der Lack am Tisch des wachhabenden Trainers war abgeplatzt, was den Blick auf das porös wirkende Innenleben freigab. Außerdem stand ein vertrockneter Drachenbaum in der Ecke des Zimmers.

Auf dem Weg zurück zu meinem Wohnkomplex sah ich eine Gruppe Arbeiter. Sie standen um einen großen, silbernen Block herum, auf dem ein stilisierter Sternhaufen befestigt war. Sie betrachteten ihr Werk, das gerade fertig geworden zu sein schien. In schwarzen Lettern war auf dem Sockel eingraviert: Die hypothetische Zivilisation der Zukunft wird nur noch die Rotation des sie einsaugenden Schwarzen Loches als Energiequelle nutzen können. Die Nacht war still und ich versuchte, das Allegorische dieser Arbeit zu erkennen. Dann, wie auf ein geheimes Signal hin, stoben die Arbeiter auseinander, als würden ihre Partikel einander plötzlich abstoßen.
Es regnete noch immer, doch die Tropfen fielen mittlerweile behäbig. In der Gondel hinauf zu den Wohnkomplexen fühlte ich mich technisch und besetzt. Oben am Wegesrand, flackerte eine der Halogenlaternen. Daneben lag ein verschleimter Falter, der aussah, als hätte ihn etwas ausgespien. Im Wohnkomplex traf ich niemanden und den selbstverständlichen Weg zu meiner Schlafkapsel von letzter Nacht gab es nicht mehr. Verwirrt legte mich auf eine Couch in einer Nische des Foyers und verbrachte einige Stunden in mattem Dämmern.

Das Vibrieren meines Overall-Device weckte mich am nächsten Morgen. Es befahl mir, das Equipment für die Ernennung abzuholen. Ich erhob mich umständlich und steuerte meinen geräderten Körper nach draußen. Hier stand der Regen in der Luft. Ich lief durch die präzise angeordneten Tropfen und sie legten sich auf meine Haut.

Als ich das Forschungsgebäude erreichte, zu dem mich mein Device navigiert hatte, sah ich, dass der Türknauf voller Schlieren war. Ich scheute mich, ihn zu berühren und sah mich um. Eine Gruppe Trainerinnen beobachtete mich aus einem der Fenster heraus. Ich stieß die Eingangstür mit der Fußspitze auf und setzte mich in den Wartebereich. Mein Display zeigte mir an, dass ich auf Abholung warten sollte. Solang schloss ich die Augen und gab mich für den Winkel aus, der genau in diese Finsternis passt. Als wäre ich wirklich dort, ließ ich mich verschlucken.

Seltene Erden

24 03 2023

Einmal verärgerte ich den Pfarrer sehr, im Beichtstuhl, nur ein paar Tage vor der Kommunionszeremonie. Ich fragte ihn, wovon er nachts träumte. Ich fragte das ganz unschuldig, weil mich zu dieser Zeit Albträume plagten. Einer handelte von einem gehäuteten Reh, das mir zitternd im Schoß lag und auf meine Jeans urinierte. Ein anderer handelte von langwierigen bürokratischen Sitzungen in einem Konferenzraum. Nie war ich das Zentrum dieser Sitzungen, der Zweck meiner Teilnahme war unklar und als Zuhörer musste ich ewige Diskussionen über Immobilien und Zinsen über mich ergehen lassen, was damals nur Worthülsen für mich waren. Fast immer endeten die Sitzungen damit, dass die Mitglieder der unterlegenen Streitpartei weinten und dabei von der überlegenen Streitpartei mit Handykameras gefilmt wurden. Manchmal wurden ihnen auch die Gesichter mit Tränen bemalt. Diese Tränen pulsierten, überwucherten die Haut und färbten sie in tiefstes Dunkelblau, bis alle menschlichen Züge verschwunden waren. Das war mir nicht ganz geheuer, darum fragte ich den Pfarrer eben, wovon er nachts träumte, nur um sicher zu gehen, dass meine nächtlichen Visionen nicht sündig waren, sonst hätte ich sie ihm ja beichten müssen. Heute weiß ich nicht genau, warum er so gekränkt reagierte. Vielleicht, weil das Gnostische am Träumen ihn verunsicherte. Das intuitive Wissen von Tatsachen ohne klaren Ursprung ließ sich nur schwer mit dem Kreislauf von Erbschuld, Sünde, Demut, Vergebung und Erlösung vereinbaren. Für den Pfarrer gab es da Phänomene mit unabhängiger Eigenlogik, die in sein christliches Blickfeld hineinragten und störten. Wie Aphthen, die zwar nicht besonders schmerzten, die man aber auch nicht ignorieren konnte. Eine von diesen Erosionen mussten seine Träume gewesen sein, und ich wiederum war der Kobold, der sie ihm durchs Gitterfenster des Beichtstuhls hindurch einflüsterte. Er widmete mir bis zur Kommunionszeremonie keinen Blick mehr. Dabei wusste er noch nicht einmal vom Reh und den pulsierenden Tränen.

Letztes Jahr langweilte mich Dating immer mehr. Entweder meine Dates waren zu direkt und wollten gleich zur Sache kommen oder sie hatten schlichtweg nichts zu erzählen. Eine Ausnahme bildete eine Massagetherapeutin, die nach zwei Campari Soda recht beiläufig erwähnte, manchmal Sex mit einem Dämon zu haben, einem Incubus. Natürlich wurde ich hellhörig und wollte mehr wissen. Ich hoffte, dass sie nun mit ihren Fantasien auspackte, stellte mir vor, wie sie und der Sexdämon schwebten und eng ineinander verschlungen gegen die Wände knallten… vielleicht spaltete sich die Raumzeit, ein Portal wurde aufgerissen, aus dem funkelnde dunkle Materie austrat und der Incubus entführte sie in eine fremde Dimension. Stattdessen aber verstieg sich mein Date bald in die üblichen Floskeln rund um Chakren, Trance und Esoterik. Der Incubus schien nur eine Metapher für eine tiefenpsychologische Kraftfreisetzung oder so einen Schwachsinn zu sein… ein Selbstfindungstrip. Es wäre mir lieber gewesen, hätte sie mich angelogen und mir weismachen wollen, sie würde tatsächlich einen Dämon ficken. Ein echter Geist, halbtransparent über dem Erdboden schwebend, Sand und Schwefel ausstoßend, mit einem Schröpfmaul aus Licht. Das dringende Bedürfnis zu lügen hätte mir vielleicht imponiert. Eine Lüge, die unter den Fingernägeln brennt und so dreist ist, dass sie fast leuchtet, hätte sich nach etwas Echtem angefühlt… nicht wieder nur nach einem Konzept.

Vor einiger Zeit war ich auf der Afterparty einer Ausstellungseröffnung. Es waren nur Holländerinnen und US-Amerikaner anwesend, deutsche Praktikantinnen brachten Gin mit Grapefruitgeschmack. Ich soff ein bisschen und beobachtete Lichtschleier, die im langsamen Tempo die Decken emporwanderten, während ich der Künstlerin auf Nachfrage ein Kompliment machte, dass sie well mit dem room gearbeitet hätte. Vielleicht weil ich der Einzige war, der Deutsch sprach, vielleicht weil sie mich süß fand, setzte eine der Praktikantinnen sich neben mich und drückte mir irgendwelche Stories rein. Sie erzählte von ihrem Studium und ihrer Masterarbeit, in der es um die allegorische Signifikanz von Zombies im 21. Jahrhundert ging, von wegen mindless consumerism, biopolitsche Auf- und Verzehrung des menschlichen Körpers, was auch immer. Sie meinte außerdem, Zombies könnten als kapitalistische Metapher für das „automatische Subjekt“ gelesen werden, der „Spuk des Zwischen“, halb Produktionsmaschine, halb Arbeiter. Vielleicht hätte ich eine freundschaftliche Diskussion lostreten können, indem ich erwidert hätte, dass ich glaubte, Leute fänden Zombies deshalb spannend, weil sie die Zusammenhänge von Bewusstsein und Gedächtnis in Perspektive rückten, weder Mensch noch Tier waren, aber eben auch keine Chimären oder Geister und das würde doch vollkommen ausreichen, um Zombies ihre allegorische Signifikanz zu verleihen. Da ich jedoch keine Lust auf Smalltalk hatte, entgegnete ich, dass Zombies gruslig seien, einfach weil sie Gehirne fräßen, und außerdem brauche es nicht für jede popkulturelle Trope eine marxistische Lesart. Die Praktikantin blickte drein, als hätte ich aufs Übelste ihre Mutter beleidigt. Reflexhaft zuckte ihre Hand, sie hätte mir wohl am liebsten den Aschenbecher über den Kopf gezogen. Ich begriff, dass diese Person ihr ganzes Leben lang anhand ihrer Intelligenz und Kreativität beurteilt worden war, nicht anhand der Sinnhaftigkeit ihrer Handlungen. Es war ihr ein blanker Horror, mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, dieses Mal kein A for effort abzustauben und damit leben zu müssen, dass ihr selbstgemaltes Bild nicht an den Kühlschrank geheftet wurde. Ich meinerseits war verblüfft, als ich spürte, dass sie mir tatsächlich den Aschenbecher über den Schädel ziehen würde, wären wir allein und hätte sie keine Konsequenzen zu befürchten. Ich sah das in ihrem Gesicht, in dem nicht nur Pikiertheit, sondern etwas Beunruhigenderes hervorquoll. Da war eine Gekränktheit, die sich ihrer selbst nicht schämte, sondern im Gegenteil bereit war, ihre Widersacher literally zu verwunden, ohne Rücksicht auf eigenen Schaden. Ein paar Sekunden lang drohte die Situation zu kippen, bis sie spöttisch die Augenbrauen hochzog und verschwand. Eigentlich war sie mir nicht mal unsympathisch. Ich vergab ihr, gleich nachdem sie aufstand und abhaute, sie mir wahrscheinlich nicht.

31 03 2023

In der erdwissenschaftlichen Sammlung des Instituts stieß sie auf einen versteinerten Flügelschlag. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich um einen fossilen Fund aus dem Miozän, eine Art Biene, beschriftet und erfasst von einem Oswald Heer.

Dieser versah all seine Funde mit dem Appendix HEER.

Chauliodites HEER, Lytta aesculapii HEER, Chondrites targionii var. arbuscula HEER und so weiter.
Die Funde: fossile Farne, Insekten und Weichtiere, Wirbellose.

Oswald Heer verfasste 1865 eine Arbeit mit dem Titel Die Urwelt der Schweiz, wonach er die Vergangenheit der Schweiz nach dem Modell der in den Kolonien begegneten Natur entwarf. Gemäß der damaligen Mode fand auch er der Idee etwas ab, in der Übersee der eigenen vorzivilisatorischen Vergangenheit zu begegnen.

Er fertigte Illustrationen an und beschriftete diese mit Überschriften wie Steinkohlenflora der Schweiz.

Darin enthalten: Palmenwedel sowie tropenähnliche Flora, auch elefantenähnliche Tiere mit Stoßzähnen am Zürichsee. Er verlagerte in einer damals so typischen kolonialen Rückübertragung die Tropen in die Alpengegend. Seine Annahme: Auch in der hiesigen Gebirgswelt spiegle sich die Geschichte der Erde.

Die Rede war von den Bergen als Tempel der Urnatur.

Es übt daher unsere Alpenwelt nicht allein durch ihre stille Erhabenheit einen unnennbaren Zauber auf unser Gemüth aus, sondern bildet zugleich den großartigsten Tempel der Urnatur, in welchem aus allen Weltaltern die wunderbarsten Bilder aufbewahrt sind. (Oswald Heer, 1883)

Die Alpen wurden eine Schablone, mithilfe derer man die Vergangenheit imaginierte. Besondere Auswüchse dieser Forschungswut und intellektueller Konstruktion: der homo alpinus, wonach es eine gesonderte urzeitliche Sorte Mensch in den Alpen gegeben habe.

Schwachsinn im Grunde.

Die Ideen der Ur-welt, des Ur-meers, der Ur-natur fanden auch Einzug in die Imagination der europäischen Denker und Dichter, die etwas über die Natur und damit auch die Welt zu sagen mochten. Alsbald sie aber das Interesse an besagten Ur-zeiten verloren, widmeten sie sich wieder ihren Geliebten.

–

Was Alexander Humboldt im Jahr 1823 Geognostischer Versuch über die Lagerung der Gebirgsarten in beiden Erdhälften nannte, hieße mehr als ein Jahrhundert später bei Hubert Fichte die Verschwulung der Welt (1973).

Was diese Welt-entwürfe unterscheiden würde: die Trennung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung. Humboldt kannte diese Differenzierung noch nicht. Fichte würde versuchen, sie wieder zu vereinen.

Novalis hatte in den Notizen seiner Lehrlinge zu Sais den Begriff der Geognostik erwähnt und geschrieben, der geognostische Streit der Volkanisten und Neptunisten sei der eigentliche Streit. Ihn beschäftigte die Frage, ob Gesteine aus einer (vulkanischen) Eruption entstanden oder aus einem sogenannten Ur-meer als Sedimente hervorgegangen waren.

Im Gegensatz zu Humboldt und Fichte würde Novalis das Meer nie überqueren, sich stattdessen bestimmten Kohlestätten in Sachsen zuwenden.

Sein Fuß bliebe an Land.

–

Als handle es sich also um Welt-zugriffe.

Ihr war, als seien die Notate, die vor ihr lagen, schriftliche Beweisführungen, als seien sie salopp gesagt Unabhängigkeitserklärungen, in etwa: Loslösungen von der Geliebten.

Entsehnungen vielleicht.

Steinkohle, Insekten, hübsch.

–

Oswald Heer war ein Fleißiger, er katalogisierte und beschriftete unzählige Insekten eines Zürcher Handelskaufmanns, der mit Kolonialwaren zu Reichtum gelangte und, wie sich rausstellte, ein besonders leidenschaftlicher Sammler war.

Heer beschriftete viele Insekten mit Bleistift, ein Ärgernis für spätere Archivarinnen.

Ähnliche Sache im Übrigen auch mit Vladimir Nabokov und seinen Schmetterlingen.

So ordnungsliebend, diese Männer, überaus rührend auch deren Hang zu Aktivitäten an der Frischluft.

Also, Oswald Heer war Brieffreund von Charles Darwin, würde sich aber mit ihm in so manch Theorien nicht einig werden. Heer hielt nichts von Darwins Idee der natürlichen Auslese, glaubte eher, die Umformung der Wesen gestalte ein Schöpfer.

Heer vermachte seine Fossilien den damals neu gegründeten wissenschaftlichen Instituten und legte damit den Grundstein (wenn man die Metapher übernehmen möchte) für spätere geologische oder paläontologische Beschäftigungen.

Archive, Kataloge und so fort.

Die Heer-Fossilien waren heute aufwendig hergeleitete Digitalisate, abrufbar im Browser.

–

Auf einer Hochebene im Berner Oberland erinnerte sie sich daran, wie sie in Florenz ein Buch gekauft hatte, in dem die Autorin von einer bestimmten Weite des amerikanischen Midwest schrieb. Eine Weite, die sich von derjenigen, die sie aus Kanada kannte, unterschied und die sie mit einem Gesicht hinterließ, so schrieb sie, das ihr vor Wind und Kälte wie zerschnitten schien.

Ähnlich erging es auch ihr heute.

Wenn auch der Schauplatz ein ganz anderer war.

Ungleich profaner.

Anders als Mary Ruefle führte sie keine Listen über ihr Weinen, führte keinen Cryalog, sondern übersetzte aus dem Bosnischen ins Deutsche.

Sie sah hinaus aufs Meer, es windete.

Auf einer Fähre sah sie sich eines Morgens ein paar Texte ins Deutsche übersetzen. Sie schrieb in Gedanken das Vorwort und den ersten Satz. Das erwählte Gegenüber werde gefaltet, gestoßen oder verräumt und zwar im Mercedes oder Maserati. Sie hatte eine Datei mit dem Namen „diplomatische Dienstleistungen“ eröffnet, die leer bleiben würde.

Auf dieser Fähre, die in Split abfuhr, fand ein russischer Mann Gefallen an drei kroatischen Schülerinnen (I like all of you), um sich später um drei Uhr morgens an der Schiffbar mit ihnen zu streiten, die ihm in gebrochenem Englisch zu erklären versuchen, was Grenze hieß (Granica, Carina, Border). Sie kämen bald in Italien an.

–

Funde:

Neptunisten: gut gepuderte Herren.

Hubert Fichte derweil mit seiner Cola am Platz der Gehenkten.

–

Als sie in der Passagierloge aufwachte, fror sie. Später an Deck stand sie in der Sonne, am Ufer zogen Kirchen am noch dunkeln Hintergrund vorbei. Im Bistro schüttete sie kurz nach sechs Uhr etwas umständlich Kaffee in einen Becher. Es sei noch sehr früh, sagte man ihr, sie solle ruhig ein wenig schlafen. Der Wind wehte ihr später auf dem Deck die Ohren taub.

Blau, sie konnte es nicht mehr sehen.

Militärisch-industrielle Hafenkomplexe, Bilder von Kränen und Containern, rauchende, fluchende Schüler.

Die Reise sei sie interessehalber eigentlich nur wegen der Brijuni-Inseln, einem der kroatischen Nationalpärke, angetreten, erzählte sie Egzon, sie habe die Zebras sehen wollen. Sie beschäftige sich seit geraumer Zeit mit Nationalpärken.

Nachts erzählte Egzon, Chef de Service, von seiner Frau in Albanien und seinem abgebrochenen Informatikstudium und wie er mit ihr sprach, ihr von seiner nächtlichen Lohnarbeit auf dieser Fähre erzählte, schien ihr, als wiederhole sich das Gespräch mit ihr um ein weiteres Mal.

Sie führte ein Album mit dem Titel „Übersetzungen“ und listete die Lieder der Balkan Top 100 Charts nach eigenem Belieben.

Etwa:

Als würde man wie von Benzin begossen brennen (Jala Brat, Buba Corelli, 2021).

Als ginge die Welt auch ohne sie beide weiter (Edita, 2023).

Sie sah die kroatischen Schülerinnen auf dem Deck rauchen.

–

In den Uffizien in Florenz stand sie vor Botticellis Venus und bestellte später Muscheln, die sie im Hotelzimmer erbrechen würde.

Hervorgetreten aus einem Ur-meer wären keine Gesteine, keine geläuterte Aphrodite, nur etwas, was immer weiter zerfiele, sei es Sand. Was Venus aus dem Meer an Land wehte, war nicht Wind, sondern eine Fähre mit dem Namen San Pawl. Ihr war, als sei auch Venus eine Wirbellose, ein Gegenstand unzähliger Betrachtung und Vermessung.

Of course I am prey, schrieb Joanna Pocock in Missoula.

Während der Arbeit an diesem Text, der den Namen Surrender tragen würde, vollzog sie eine Bewegung, welcher vorausging, an einen Ort einzukehren, den man zuvor noch nie gesehen hatte.

Es hieß:

I studied Missoula’s physical features as if I were looking at a face that reminded me of someone I once knew who had hurt me. (Joanna Pocock, 2019)

Aus den Seiten dieses Buches fiel heute ein Flyer des Museo di Storia Naturale Firenze in die Gänge der erdwissenschaftlichen Sammlung zu Boden.

Darauf ein weiterer Fund: WELCOME TO FOSSILWORKS!

[...]

07 04 2023

Jemand hat mich auf eine Holzbank gesetzt. Links neben mir wächst ein krummer Baum, dessen Früchte rund sind und filzig. Sie haben eine gezähnte Krone, die vielmehr an die Klappfalle einer Karnivore erinnert als an ein harmloses Obst, zwischen Feige und Birne. Ich habe erst hier bemerkt, dass Bäume Ausdruck haben. Wie im Spätherbst ihre nackten Zweige gestikulieren, vom blättrigen Schutz entblößt, mir ihre scheinbar schmerzenden Glieder offenbaren. Bäume bluten auf eine dem Menschen unähnliche Weise, in Dantes Göttlicher Komödie nehmen Selbstmörder ihre Gestalt an. Im siebten Kreis der Hölle sehe ich, wie eine Harpyie ihnen etwas in den Mund legt: Menschen waren wir; jetzt sind wir Gestrüpp.

Rechts von mir steht mein weiß bestrichenes Häuschen. Über der Stadtmauer biegt es sich in eine Brücke, gymnastisch, Sockel und Schwelle sind zurückgewölbt, die Eckstreben stehen am Boden. In dieser Unterführung liegen Zigarettenstummel, liegen abgetragene Masken. Das Häuschen steht am Rand der Altstadt.

Es ist still hier. Alles, was zwei Straßen weiter Geräusch ist, die Kaffeetassen, das Gelächter, das Kindergeschrei beim Wasserspiel, das Wasserspiel, ich, ist hier stumm. Auf diesem Platz stand einst ein mittelalterliches Bad, nun das Häuschen, in dem ich wohne.

Ich spüre, wie ich vom Anblick gesättigt bin, wie die tägliche Routine ein und derselben Sicht meine Rezeptoren zur Genüge angefüllt hat, wie Signale an mein Gehirn gesendet wurden, wie ich voll von Nährstoff bin. Hertha Müller sagt: Man muss erst hungern, um seine Sprache zu finden; Hunger wird Motiv und formales Prinzip der Literatur.

Jemand hat mich in einen Garten gesetzt. Hier draußen kann man mich sehen. Vor den metallenen Streben des Zauns steht ein älterer Herr. Seine Haare sind schwarz, die Schläfen grau meliert. Durch eine eckige Brille schauen kleine Augen gütig drein. Es habe vor mir, erzählt er, in diesem Haus, ein Mädchen gewohnt, meine Vorgängerin. Sie hatte dunkles Haar, wie ich, und große Augen. Sie habe ihm von ihren Plänen erzählt. Er meint, wie ich, saß das Mädchen meistens auf der Holzbank, nur ein Stück weiter links. Sie habe einen Auftrag gehabt und ihrer Familiengeschichte nachgespürt. Ihr Urgroßvater sei als sowjetischer Soldat in Deutschland gefangen gewesen, in einem KZ-Außenlager. Es gäbe eine Fotografie von ihm, in Häftlingskleidung, mit blauem Dreieck. Unten auf dem Bild sei eine Handschrift zu erkennen gewesen. Sein Name, Geburtsjahr, und darunter: Konzentrationslager Fürsten, dort sei die Fotografie abgerissen. Sie sei auf der Suche nach ihm, nach seinem Namen, nach Fürsten in Lagern, Kriegsgräberstätten und Archiven. Ihre Familie wusste nur, dass er es wohl geschafft hatte, in die USA zu gelangen. Dass er dort gelebt habe, unerreichbar durch den Eisernen Vorhang. Sie habe es naheliegend gefunden, dass seine Gefangenschaft von Amerikanern beendet wurde. Irgendwo im Süden also. Darum sei sie hier gewesen.

Mir ist kalt. Hier draußen regt sich ein Wind, rau, in dieselbe Richtung, in die ich schaue. Er treibt das Laub vor meinen Füßen zur Stadtmitte, Sediment einer Jahreszeit, ein einfacher Kompagnon. Ich folge ihm, gehe über eine Ecke aus dem Garten hinaus. Dort heben sich die gelben Säcke wie Luftballons Richtung Himmel, jemand hat Geburtstag. Erst hatte ich gezögert, als der Wind mich an die Hand nahm, ich wollte sitzen bleiben.

Auf der einen Seite des Platzes werden Häuser saniert, auf der anderen fällt der Putz ab, und in der Kneipe im Erdgeschoss trinkt schon lange niemand mehr, es haben alle. Ich richte meinen Blick wieder auf die Straße, und der Wind dreht sich zu mir um. Vorn kann ich schon die weitläufige Fläche der Hauptstraße sehen.

Ich spüre, dass mein Körper nur ungenügend versorgt ist, ich war nicht oft hier, bald werden mir Botschaften gesendet. Die Hauptstraße ist rechteckig in die Altstadt gesetzt, und die Häuser darauf mühsam in Reih und Glied, strammstehende Soldaten in Pastell, leuchtendes Blau, zartes Mint, Rosa, Vanille, Flieder, alles ist Bonbon, ist Zuckerwatte, Zinnsoldat, hier werden Kinder geboren, hier wird freundlich gelächelt. Ich stehe am unteren Rand der Straße, und halte mir die Augen mit beiden Händen, noch knurrt in mir nichts, noch kontrahiert nichts, keine Leerstände zu melden, kein Appetit.

Auf der Holzbank vor dem Rathaus bin ich eingeschlafen. Ein bisschen einschlafen, den Körper senken, die Temperatur, alles fließt jetzt langsamer. Als ich aufwache, hat mich jemand an ein Gleis gestellt, wie ein stehengelassenes Gepäck, das nicht weiß, wann es abgeholt wird.

Mir reicht oftmals die Erinnerung. Ich suche in meinen Ablagen, die vergangenen Versionen, Reserven, die sich im Papierkorb stapeln, und die ich linksliegenlassen habe, wie den Aschenbecher auf der Holzbank im Garten, wie das Laub neben meinen Füßen.

Jemand hat mich an ein Gleis gestellt, jetzt bin ich am Bahnhof. Ich höre, dass es in mir knurrt, und bevor es zu laut wird, springe ich in eine Pfütze. Dort bricht sich das Geräusch, wie in den Straßen vor dem Garten. Ich streite mit dem Wasser um Luft.

Ein Blick in Richtung Himmel. Keiner regt sich, bloß Sonne, schimmernd, wie an jedem Morgen, obwohl es Abend ist. Ich stelle mir meine Vorfahren als brennende Bilder vor, jemand hat sie in den Kamin geworfen. Der Mensch, der mich ans Gleis gestellt hat.

Ich wende meinen Blick ab, um nicht auszuhungern, setzt man an, kann man die Hebungen beobachten, die Augen sind groß, die Ohren, der Hungernde hat keine Zeit.

Wir wissen von dem jungen Mann, dass er zwischen 1914 und 1915 geboren wurde, irgendwo in Kleinasien, Westarmenien, der heutigen Osttürkei. Er war einer der vielen Waisenkinder, ein Säugling ohne Namen, ohne die Möglichkeit, sich an die Stimmen seiner Eltern zu erinnern, wie sie ihn aussprechen. Er überlebte in den Armen einer europäischen Missionarin, zarte Dänin, blonder Zopf, zurückhaltende Handgriffe, die ihn als Mädchen ausgab. Mädchen verüben keine Blutrache, der Befehl, die Neugeborenen zu töten, galt für sie darum weniger streng. Wir wissen auch, dass er eine Frau hatte, und einen Sohn. Sein voller Name ist in zehn verschiedenen Schreibweisen möglich, in vier Sprachen, die er benutzt haben könnte.

Der Weg, den ich nehme, die Steine, auf die meine Füße aufschlagen, wirken abgetragen, ich stelle sie mir zurückgelassen vor, wie die Zigarettenstummel in der Unterführung, wie Risse auf der Haut meiner Erinnerung. Das platte Tönen hindert mich am Fallen, ich stelle mir vor, wie es wäre, mich im Kamin zu verbrennen, wie ein altes Bild, das jemand hineingeworfen hat. In den Rissen meiner Erinnerung eine Bestimmung gefunden: Ich, als aphasisches Findelkind, aufgewachsen unter Wölfen, das der Straße mit einem Mal entschwunden ist.

Ich folge dem abschüssigen Weg, der mich den Boden mal aufatmen, mal abatmen lässt. Oben ist schimmernde Sonne und Sicht. Hier bin ich Vorüberziehende, hier gehe ich auf den Wunden der Stolpersteine, an scheinbar zerbrechlich wandernden Orten, umher. Unten bin ich eingewandert, gescheitert.

Ich setze einen Riss in die Haut meiner Erinnerung. Das hungernde Mädchen, dessen Körper mir mit der Straße entschwunden ist, objet trouvé einer deutschen Kleinstadt; der künstlerische Akt liegt in der Auslese, liegt im Fund des künstlerischen Potenzials.

Manchmal verlasse ich den Bordstein, ziehe mich zur Mitte der Straße, und die sich ändernde Perspektive lässt meine Erinnerungen überkochen, lässt die benötigten Reserven atmen, die sich aufopfernden Muskelmassen, das körpereigene Protein und anderes Gewebe. Meine Sicht lässt sich grundsätzlich nicht unterdrücken, aber dämpfen kann ich sie, zügeln.

Der Mensch, der mich ans Gleis gestellt hat, hat Risse unter den Augen. Sie werden länger, als ich aufwache. Nach kürzester Zeit werden Radikale gebildet. Sie greifen die Haut an, wir verlieren Elastizität, und folgen der Schwerkraft nach unten.

Auf dem Bild ist ein junger Mann von zwanzig oder dreißig Jahren. Er schaut in die Kamera, mit Augen, den Mund zu etwas geformt, das kein Lächeln ist. Sein Kopf ist leicht nach rechts geneigt, auf dieser Gesichtshälfte ist Schatten. Das Haar ist dicht, ordentlich nach hinten gekämmt. Er wirkt intelligent und zugleich auf eine Art naiv, er muss gerne gewartet haben. Sein Blick scheint nicht fernzugehen, dennoch sehe ich Nachdenklichkeit in den Augen, eine Trauer ohne Schmerz. Ich stelle ihn mir als Träumer vor, als hätte er nichts erlebt, was er bedauern müsste.

Irgendwann setzt die Straße einen Riss in die Haut meiner Erinnerung, und ich sehe, dass sie um mich begrenzt ist, dicht genug, dass ich den Übergang von Wirklichkeit und Halluzination nicht mehr sehen kann, in dem plötzlichen Drang nach Bildsuche, Nahrungsaufnahme. In diesen Rissen eine weitere Bestimmung gefunden: Ich, fortan als Hungerkünstlerin, Schaustellerin, mein zurückgelassener Blick an einem trüben Abend.

Es ist offensichtlich, dass das Bild kein Original ist, bloß die Fotografie einer Fotografie, kurz unterhalb des Kragens abgeschnitten, der gestreift ist, vielleicht schwarzweiß, oder blau. Über das Bild gehen Risse, horizontal, als sei es oft gefaltet worden, geöffnet, um es anzusehen, geschlossen, um es nicht sehen zu müssen. Von einem Sohn vielleicht, fern, und diesseits des Eisernen Vorhangs. Am unteren Rand sind drei Zeilen zu erkennen. Ein Name, eine Jahreszahl, ein Ort. Dort ist es abgeschnitten. Als hätte der junge Mann es so gewollt. Zu wenig, um jemanden zu finden, aber genug, um sich auf die Suche zu machen.

Unter meinen Augen sind Risse. Vorhin hing dort noch ein Bild. Es ist mir heruntergefallen, als mich jemand an das Gleis stellte, gegen den einfahrenden Zug. Auf dem Bild: ein aphasisches Findelkind, aufgewachsen unter Wölfen, mit Augen, und den Mund zu etwas geformt, das kein Lächeln ist. Jetzt sitzt es auf den Gleisen, und würde die Stadt verlassen.

Je länger ich ihm in die Augen sehe, desto unwahrscheinlicher wirkt es, dass er gelebt haben soll. Dass mein Urgroßvater dieses Leben gelebt haben soll, von dem wir wissen: Als Waise im Genozid, als Gefangener im Konzentrationslager. Zeuge der großen Katastrophen, doch immer gerettet.
Die Sonne entfernt sich, genauso der Abend. Ich stehe auf der Hauptstraße, schaue in Richtung oben, und sehe die brennenden Bilder meiner Vorfahren, die jemand, ich, in den Kamin geworfen hat.

14 04 2023

Du bestehst aus drei Teilen: Einem strahlenden, einem sich verflüchtigenden und einem fleischlichen (möglicherweise). You are a VERY radiant star. Deine Arbeit besteht aus drei Teilen: der Flaschenpost, versiegelt hinter unerratbaren URLs, auf dass sie einer (oder besser noch, keiner) entdeckt, dem öffentlichen und dem eigentlichen Teil. Du denkst, dass einer authentischer sei als der andere – ich sage, dass sie Ablenkung von der Ablenkung sind, sein könnten. Die Menschen lieben deinen öffentlichen Teil, sie lieben die kleinen Figuren, sagst du, und zeigst mit zwei Händen an, wie klein sie sind, deine öffentlichen Figuren. Ich denke daran, wie ich vielleicht irgendwann eine deiner enigmatischen URLs zufällig eintippe und auf deine geheimen Arbeiten stoße, die nicht für mein Auge und doch ganz für mich geschaffen sind. Wie du fleischlich.

*

Ich habe zu meiner eigenen Arbeit ein insecure attachment, erkläre ich dir, und schäme mich kurzzeitig dafür; aber es stimmt. Ich bin zu ihr wie zu einer unzuverlässigen Mutter, besitzergreifend, eifersüchtig, bitter, verlustängstlich. Ich denke, dass sie mich ausmacht (was sollte es auch sonst sein? Meine direkte Art?) und fürchte ständig, dass sie mir entgleitet. Ich habe sie verdinglicht und fetischisiert. Je äußerlicher sie bleiben muss, desto zwanghafter klammere ich mich an ihr fest. Du hast drei Arten deiner Arbeit; für dich gibt es keine Trennung, es könnten auch vier, elf, dreißig sein.

*

Obwohl ich gereift bin seit unserem letzten Treffen, gewachsen, wie man sagen könnte, bestimmst du danach erneut meine Tagträume, drängst dich in sie hinein. Voll neugewonnener Vernunft zähle ich die Möglichkeiten auf: du bist dir unsicher, aber ich spiele nur eine periphere Rolle (wahrscheinlich), du bist distanziert und hast eine Art Respekt vor mir (wahrscheinlich und nicht unschmerzhaft), du würdest mich näher heranlassen, aber weißt nicht, dass ich es auch wollte (unwahrscheinlich und dumm). Du bist auch gereift, denke ich, du bist ruhiger. Deine Augen leuchten wie damals, dem kann ich nicht lange standhalten. Du trägst die gleichen Haare, ich auch (gerader Pony, klarer Scheitel). Vielleicht ist es das: ein Dialog unserer Frisuren, die uns Kohärenz garantieren.

*

Während die Kühle die einscheibigen Fenster hochwandert, sich als Beschlag manifestiert, während mein Handrücken weiter austrocknet und sich in seine Fältchen verzieht, die ich erkennen kann, wenn ich mit meinen Augen ganz nah rangehe, während auch meine Sprache sich zurückzieht und nur Reste eines ehemalig reichen Vokabulars verbleiben, zwischen denen ich umherirre, unfähig, sie bedeutsam zu rearrangieren, bestehe ich aus zwei Teilen: einer, der weiter zu dir hinwill und einer, der sich entfernt.

Bindung

Neue literarische Texte

info[at]bindung.co
instagram.com/bind__ung

Herausgeber

Felix Plate
Konzept, Design und Development

Len Sander
Konzept und Redaktion

Leipzig/Berlin, 2024

Danke

Sascha Bente
Für die Schrift „Material“

Kirby CMS
Für die Lizenz